Schon seit 1876 gibt es die Bayreuther Festspiele. Jährlich strömen von Ende Juli bis Ende August etwa 60.000 Besucher zu den rund 30 Vorstellungen des Musikfestivals in die 74.000 Einwohner zählende Stadt. In diesem Jahr kommen neben den in festliche Abendrobe gewandeten Musikliebhabern im Wagnerschen Festspielhaus auf dem Grünen Hügel nochmal 20.000 Fußballfreunde in legeren Trikotagen hinzu, denn das DFB-Pokal-Los hat den Spielplan um eine weitere aufregende Vorstellung ergänzt.
Noch immer ein großes Los: DFB-Vizepräsident Peter Frymuth präsentiert den dreimaligen Pokalsieger und letztjährigen Halbfinalisten HSV.
Kaum beschriebenes Blatt im HSV-Archiv
Satte 420 Kilometer Luftlinie bzw. gut 570 auf der Straße trennen die beiden aktuellen Pokal-Kontrahenten aus dem hohen Norden und tiefen Südosten der Republik voneinander. Neben stets unterschiedlicher Liga-Zugehörigkeit ist das der Hauptgrund, warum sich in den vergangenen 100 Jahren parallelen Kickens die Wege des Sportvereins von 1887 und der Spielvereinigung von 1921 noch gar nicht kreuzten. Die Recherche-Ergebnisse im HSV-Archiv zum Stichwort „Bayreuth“ fallen jedenfalls ziemlich dünn aus. Ende der 1980er-Jahre gab es personelle Berührungspunkte: So verlieh der HSV zur Rückrunde 1987/88 Stürmer Walter Laubinger nach Bayreuth. Laubes halbjähriges Gastspiel beim damaligen Zweitligisten verlief wenig „zauberhaft“: Rot wegen Nachtretens beim Debüt, insgesamt nur vier Punktspiel-Einsätze mit vier Niederlagen und 1:12 Toren – Abstieg. Als Erfolgsgeschichte entpuppte sich hingegen der Süd-Nord-Transfer des Armin Eck. Der gebürtige Kulmbacher wechselte im Sommer 1989 nach insgesamt neun Jahren bei der SpVgg und zwei Saisons beim FC Bayern zum HSV, für den er es in fünf Jahren auf starke 149 Pflichtspiele mit 21 Toren brachte. 1999 bis 2003 kehrte er als erfolgreicher (Spieler-)Trainer zur SpVgg zurück – eine Club-Ikone, der im sehenswerten Bayreuther Vereinsmuseum (Erlanger Straße 45; www.altstadt-kult.de) im „Eck-Eck“ gehuldigt wird.
Trugen sowohl das Trikot mit der Raute als auch das der SpVgg: Walter Laubinger (o.) und Armin Eck (u.).
Wir wühlen noch ein bisschen weiter: Direkte Duelle? Fehlanzeige! Wenngleich: Zwei kleine, schon mehr als 50 Jahre zurückliegende Einträge gibt es: Zwei Spiele der Rothosen am Roten Main gegen die Bayreuther Stadtauswahl, in deren Reihen etliche Akteure der SpVgg standen. Aus HSV-Sicht waren das jeweils wahre „Himmelfahrtskommandos“ in Form turbulenter donnerstäglicher Torfestivals, aus Bayreuther Warte hingegen „denkwürdige Festspiele“. Im Detail: Nach der verkorksten Oberliga-Saison 1953/54, der einzigen übrigens, in der man nicht den Nord-Titel einheimste, begab sich der HSV auf Freundschaftsspieltour nach Bayern. Und während in der Heimat Hannover 96 die Schwäche und Abwesenheit des regionalen Abo-Meisters sensationell ausnutzte und – ausgerechnet im Volksparkstadion – zum nationalen Titel stürmte, tingelte der HSV durch die oberfränkische Provinz. Die Stationen: Bamberg – Hof – Marktredwitz – und am 27. Mai 1954 auch Bayreuth. 6.000 Zuschauer sahen einen furiosen Auftritt der Gastgeber, allen voran von Amateur-Nationalspieler und Doppeltorschütze Fritz Semmelmann. Klaus Stürmer, Werner Harden und zwei Minuten vor Abpfiff Herbert Wojtkowiak konnten für den HSV den 0:3-Pausenrückstand egalisieren und die Pleite gerade noch verhindern. Acht Jahre später, am 31. Mai 1962, gelang das ohne die zur WM in Chile abgestellten Jürgen Kurbjuhn, Jürgen Werner und Uwe Seeler nicht. 3.200 bestaunten einen 5:4-Triumph ihrer Stadtauswahl. Für den HSV trafen seinerzeit Dieter Seeler per Elfer, Fritz Semmelmann per Eigentor, Charly Dörfel und Peter Haack.
Platz für gut 20.000 Pokal-Fans: Bayreuths Hans-Walter-Wild-Stadion.
Neuland für HSV-Hopper
Gespielt wurde damals noch im „Stadion an der Jakobshöhe“, mittlerweile ein „Lost Ground“. Die enge und stimmungsvolle reine Fußball-Arena mit Platz für 10.000 Besucher wurde im Jahr 2000 abgerissen und an ihrer Stelle ein Supermarkt gebaut. Tipp für Pokalticket-Inhaber und Stadionfans: Von der altehrwürdigen Spielstätte sind noch ein Mauerrest und eines der schmucken alten Eingangstore geblieben. Die „Altstädter“ (mundartlich: „Oldschdod“), wie die Fußballer der SpVgg genannt werden, tragen ihre Heimspiele seit 1974 im Städtischen Stadion am Ellrodtweg aus. Die Anlage mit Leichtathletikbahn ist Teil eines Sportparks, zu dem auch ein Hallenbad, eine Eissporthalle und die multifunktionale Oberfrankenhalle gehören. Im Juli 2002 erhielt das Stadion mit der markanten Haupttribüne mit zwölf halbrunden Dachelementen seinen heutigen Namen nach dem langjährigen, dem Sport stets sehr verbundenen Bayreuther SPD-Oberbürgermeister Hans Walter Wild (1919-2001). So es denn Corona erlaubt, wird der Bayreuther Schatzmeister zum Pokalspiel gegen den HSV zum vierten Mal in der Stadion-Geschichte bei einem Fußballspiel „ausverkauft“ vermelden können. 1979, als man im Aufstiegsspiel gegen Bayer 05 Uerdingen (1:1) laut an die Tür zur Bundesliga klopfte, kamen 22.000 Fußballfans. 1980, im Pokal gegen den FC Bayern (1:0), zwängten sich 18.000 auf die Tribünen, und 1987, beim Showdown am letzten Spieltag der Bayernliga gegen den TSV 1860 München (3:1), passten 20.000 rein. Muckelig eng war es zudem auch bei Open-Air-Konzerten: Im Juni 1991 lauschten 20.000 Rod Stewart und Gianna Nannini, im September 1992 sogar 28.000 Michael Jackson.
Reichlich Einträge im Pokal-Archiv
„Beat it!“ oder „Thriller“ – Jackos Superhits von 1982 waren schon einige Mal Soundtrack für Bayreuther Pokalspiele. Denn so blank bislang die Statistik für direkte Duelle mit dem HSV auch ausfällt, so vielfältig und zum Teil auch bemerkenswert sind die Spuren, die die SpVgg in der DFB-Pokal-Chronik hinterließ. Aktuell haben sich die Oberfranken zum 19. Mal für den Wettbewerb qualifiziert. In der Ewigen Tabelle rangieren sie auf Platz 54, knapp hinter bzw. vor den ehemaligen Bundesligisten aus Cottbus und Unterhaching. Bei den vergangenen vier Auftritten war für die Schwarz-Gelben zwar stets in der 1. Runde Schluss, doch schon zweimal führte die Reise bis ins Viertelfinale, 1979/80 u.a. dank des legendären 1:0-Sieges über den großen FC Bayern. Die Partie vom 12. Januar 1980 auf gewalztem Schneeboden ist zweifelsohne die Sternstunde der Vereinshistorie, Mittelstürmer Uwe Sommerer, der den Ball anatomisch anspruchsvoll („halb Oberschenkel, halb Arsch“) zum goldenen Tor über die Linie bugsierte, genießt immerwährenden Helden-Status.
Sternstunde: Schneewalzer mit den Bayern anno 1980.
Per Umweg in den Lostopf
Die aktuelle Startberechtigung und damit das mit großer Freude erwartete Duell mit dem HSV erspielte sich Bayreuth über einen Umweg. Eigentlich war die SpVgg schon raus aus der Verlosung. Nach Auswärtssiegen gegen den SV 08 Auerbach (3:1), die DJK Vilzing (2:0) und den ASV Neumarkt (2:0) markierte das 1:2 Anfang November im Viertelfinale des Verbandspokals beim späteren Sieger FV Illertissen die Endstation. Wie gesagt: eigentlich. Denn Bayreuth nahm die Hintertür: Da der bayerische neben dem niedersächsischen und westfälischen zu den drei Landesverbänden mit den meisten Herrenmannschaften im Spielbetrieb zählt, stehen ihm zwei DFB-Pokal-Startplätze zu. In Bayern gehen die an den Verbandspokalsieger und den bestplatzierten teilnahmeberechtigten bayerischen Regionalligisten.
Überragende Saison 2021/22
Dieses Ticket zog sich die SpVgg durch eine herausragende Punktspiel-Saison. 30 der 38 Ligaspiele wurden gewonnen, nur fünf verloren, 93 von 114 maximal möglichen Zählern eingehamstert. Der entscheidende Schritt in Richtung Meisterschaft und Aufstieg gelang am Ostermontag vor über 10.000 begeisterten Zuschauern mit einem fulminanten 4:0 im Heimspiel gegen den FC Bayern II. Nicht nur in diesem Spiel glänzte Bayreuth als bestes Umschaltteam der Liga, das mit schnell vorgetragenen Kontern seinen Gegnern große Probleme bereitete. Keine Hintermannschaft kassierte so wenige Gegentore (39) wie die um Keeper Sebastian Kolbe, nur die Bayern Reserve traf noch häufiger. Von den insgesamt 103 Toren ging gut ein Fünftel (21) auf das Konto von Torjäger Markus Ziereis.
Steinschleuderverdächtige Kennzahlen eines vermeintlichen „Davids“, der ganz schnell zum „Siegfried“ werden und den „Goliath“ zu Fall bringen kann. Beim HSV hat man das alles aufmerksam registriert. Tim Walter und sein Team sind gewarnt. Also: Was wird am Nachmittag des 30. Juli in Bayreuth gegeben? Hoffentlich nicht „Der fliegende Holländer“ (Achtung, Ludo!). Wird es ein Walkürenritt? Kommt es gar zur Götterdämmerung? Wie viele Akte sind nötig? Wagners „Ring der Nibelungen“ gilt als die längste Oper der Welt, kann bis zu 16 Stunden dauern. Kein Problem! Die HSVer haben – spätestens seit den Dramen der abgelaufenen Pokal-Saison – Stehvermögen und Nerven aus Stahl. Wir sind gespannt. Und voller Vorfreude auf die 80. Aufführung dieses einzigartigen Wettbewerbs. Bühne frei!