„Vergesst nicht Gerhard Heid!“, mahnte Dr. Horst Barrelet zu vorgerückter Feierstunde am 11. Mai 1977 in Amsterdam. Gerade hatte der HSV durch einen 2:0-Finalsieg im Pokalsieger-Cup über den RSC Anderlecht erstmals den europäischen Fußballthron bestiegen. Und der Jurist, der dem Club von Dezember 1968 bis November 1973 als Präsident vorgestanden hatte, erinnerte an einen Mann, ohne den dieser Triumph sicherlich undenkbar gewesen wäre.
Neuer Jugendstil
Ein bisschen beglückwünschte sich Barrelet in seinem Gedenken auch selbst – für eine der wohl besten Investitionen, die der HSV jemals tätigte. Im Oktober 1970 hatte er gemeinsam mit dem jungen Cheftrainer Klaus-Dieter Ochs im dynamischen Nachwuchs-Experten Gerhard Heid den idealen Partner für den dringend notwendig gewordenen, in seiner radikalen Art aber dennoch kühnen Umbruch und Generationswechsel im HSV-Lizenzspielerkader gefunden. Heid, vormals Coach der erfolgreichen Jugend-Elf des Ludwigshafener Vorortvereins TuS Altrip, verkörperte den neuen und bis dahin beispiellosen „Jugendstil“ des HSV, die Entwicklung und Förderung und von Fußballtalenten „mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln“. Der bestens vernetzte und in seinem BMW ruhe- und rastlos durch die Republik reisende Junggeselle erwies sich sofort als absoluter Volltreffer: ein perfekter Organisator mit untrüglicher Spürnase, der fortan zahlreiche Talente in die Hansestadt lotste. Zum Einstand präsentierte Heid gleich fünf Jugend-Nationalspieler als „Startkapital“, darunter sein Altriper-Schützling und Abwehr-Ass Manfred Kaltz, Torwart Rudi Kargus und Stürmer Peter Lübeke.
»Fußball-Lehrling« mit Familienanschluss
Der neue „HSV-Talentschuppen“ wurde zwar ziemlich rasant, aber dennoch mit äußerst solidem Fundament errichtet. Ein durchaus kniffliges Unterfangen, wie sich HSV-Schatzmeister Helmut Kallmann später erinnerte: „Wir hatten die Jungen in die Hansestadt geholt, sie kamen meist aus ländlicher Umgebung. Ihre Eltern glaubten zwar an die Seriosität des HSV, aber sie wollten sich doch davon überzeugen, dass ihre Sprösslinge nicht in einen Sündenpfuhl geraten waren. Hamburg wird ja in der Provinz sehr schnell an der Reeperbahn gemessen.“ Die Lösung: Präsident Barrelet sorgte durch Anrufe bei Mitgliedern, Gönnern, Freunden und Fans des HSV dafür, dass die Talente in Gastfamilien unterkamen, die sich rührend um die Jungs kümmerten. Heid, selbst ohne Eltern und Geschwister aufgewachsen, wusste, worauf es ankommt: „Man muss mit dem Herzen dabei sein.“
Bei Familie Melcher in Buchholz wohnten Haltenhof und Rupietta, im Reihenhaus der Familie Dose in Norderstedt kamen Riemann, Krobbach und Hidien unter, bei den Hügelmanns in Wandsbek logierten Nobs und Tippelt. Kaltz und Kargus zogen Ende 1970 zu den Topfs nach Volksdorf. „Ein Glücksfall“, wie sich Rudi Kargus erinnert, „ein schönes Haus, geregeltes Leben, und einen Sohn in unserem Alter hatte die Familie auch.“ Im Frühjahr 1971 gesellte sich mit Caspar Memering ein weiterer WG-Genosse dazu. Der „kicker“, der seinerzeit als Service für Autogrammjäger noch die Privatadressen (!) der Bundesliga-Stars veröffentlichte, führte so zeitweilig gleich drei HSV-Profis unter der Anschrift „Holunderkamp 5“. Memering schwärmt noch heute: „Wir waren in die Familie eingebunden, das war schon toll. Da hatte jeder sein eigenes Zimmer. Man brauchte nie allein zum Training.“
Die HSV-Youngster sorgten für Furore … und auch ein bisschen Ärger. Vorwürfe, der HSV betreibe unlautere und unmoralische „Spieler-Ziehung“ wies Heid jedoch entschieden zurück: „Ich brauchte den Jungs nur unser Programm darzulegen und sie waren einverstanden. Sie haben gesehen, dass sie beim HSV die große Chance in der Bundesliga bekommen können. Wir haben nichts anderes als den Fußball-Lehrling eingeführt.“
Initiatoren des HSV-Jugendstils Anfang der 1970er-Jahre: Präsident Dr. Horst Barrelet (Foto links), Cheftrainer Klaus-Dieter Ochs und Jugendmanager Gerhard Heid (Foto rechts).
„Wir legen Wert darauf, dass alle Jungen aus einem guten Elternhaus kommen, menschlich zueinander passen und eine echte Einstellung zum Profifußball besitzen.“
Zuwenig Zeit mit Heid
Heid-ewitzka! Das Konzept griff und war nachhaltig. Sein Erfinder und Protagonist hat den HSV geprägt, obwohl er sich viel zu früh und tragisch verabschiedete. Gerhard Heid war buchstäblich rund um die Uhr im Einsatz und rieb sich an seinem Job gesundheitlich auf. Im Februar 1972 wurde er mit schweren Erschöpfungszuständen ins Krankenhaus eingeliefert. Die Ärzte diagnostizierten kritische Blutwerte und Kalziummangel. Am 20. März 1972, als er sich eigentlich auf dem Weg der Genesung befand und tagsüber die Klinik schon wieder verlassen durfte, erlag Gerhard Heid im Alter von nur 36 Jahren einem Herzinfarkt. Nur wenige Stunden zuvor hatte er noch ein Spiel der HSV-Amateure besucht. Talent Peter Hidien (17), von Heid in Koblenz-Metternich entdeckt, erklärte tief bewegt: „Wir haben nicht nur unseren Betreuer verloren, sondern auch unseren väterlichen Freund.“ Hidien war es auch, der im September 2017 die Laudatio hielt, als der HSV seinen Talentsichter mit einer Bronzeplatte auf dem „Walk of Fame“ des HSV ein Denkmal setzte. Sein Vermächtnis: zahlreiche Talente, die zu langjährigen und erfolgreichen Bundesliga-, ja sogar Nationalspielern wurden und großen Anteil daran hatten, dass der HSV in den 1970er-Jahren zu einer internationalen Spitzenmannschaft aufstieg.
Gerhard Heid – unvergessen!
HSV-Zugänge im Sommer 1971 (v.l.): Die Heid-Entdeckungen Caspar Memering, Manfred Kaltz, Peter Lübeke und Torwart Rudi Kargus sowie Ole Bjørnmose, Georg Volkert und Klaus Winkler.