Das Ende der Saison 2020/21 bedeutete beim HSV das Ende eine Ära. Mit HORST SCHLÖSSER legte nach dieser Spielzeit ein Mann sein Amt nieder, der nie in der ersten Reihe gestanden hatte und dennoch so nah dran gewesen war an den Größen des deutschen Fußballs wie kaum ein anderer. Jedoch hießen seine Begleiter nicht Keegan, Kaltz und van der Vaart, sondern Meyer, Merk und Fandel. Eine Danksagung für fast vier Jahrzehnte Arbeit im Zeichen der Raute, des Fußballs und des Schiedsrichterwesens.

36 Jahre sind eine unglaublich lange Zeit, speziell im Fußball. Doch genau so lange hat Horst Schlösser in Diensten des HSV diejenigen Schiedsrichter betreut und begleitet, die für die Spiele im Volksparkstadion angesetzt wurden. 36 Jahre – zur besseren zeitlichen Einordnung: Zwei Jahre nach dem größten Erfolg der Vereinsgeschichte, dem Europapokalsieg in Athen, und zwei Jahre vor dem letzten DFB-Pokalsieg in Berlin begann Schlösser seinen Dienst. 1985 war es, als er von seinem Vorgänger Werner Otto zwei Spiele lang eingearbeitet wurde und von dort an die Betreuung der Unparteiischen übernahm. In diesem Sommer beschloss der heute 81-Jährige, der in diesen 36 Jahren unglaublicherweise lediglich zwei Heimspiele im Volksparkstadion verpasst hat, in HSV-Rente zu gehen.

Tennis war immer die große Passion von Horst Schlösser. In der Tennisabteilung des HSV spielte er, organisierte Feste für alle Mitglieder – und lernte Werner Otto kennen. Der war es, der den jungen Horst Schlösser fragte, ob er sich vorstellen könne, sein Nachfolger als Schiedsrichter-Betreuer des HSV zu werden. Hort Schlösser konnte. Und schließlich übernahm der selbstständige Im- und Export-Kaufmann im Jahre 1985 die Aufgabe. „Wäre ich nicht selbständig und somit in der Lage gewesen, mir meine Zeit frei einteilen zu können, wäre es schwierig gewesen“, erinnert er sich, „schließlich war diese Aufgabe gerade in den Zeiten mit Europapokal und Champions League nahezu ein Fulltime-Job.“

Die Schiedsrichter am Tag vor dem Spiel vom Flughafen oder Bahnhof abholen, sie ins Hotel fahren, am Spieltag ins Stadion bringen, vor Ort als Ansprechpartner dienen, anschließend wieder ins Hotel fahren – allein dieser Umfang ist zeitraubend. Horst Schlösser aber interpretierte seine Aufgabe noch deutlich umfangreicher. „Als Schiedsrichter-Betreuer hast du mit deiner Art Maßstäbe gesetzt und bist eine Legende geworden“, schrieb ihm der 197-fache Bundesliga-Schiedsrichter Lutz Wagner, als er von Schlössers Rückzug las, „mit dir verabschieden wir nicht nur einen der besten Schiedsrichter-Betreuer in den verdienten Ruhestand, sondern auch einen tollen Menschen und guten Freund.“ Diese Zeilen machen deutlich, dass hier jemand mit besonders viel Freude und Hingabe seine Aufgabe ausgefüllt hat. „Für mich war dies nie einfach nur ein Job, sondern eine absolute Herzensangelegenheit“, sagt Schlösser rückblickend. So erklärt sich auch seine ganz besondere Art der Ausübung.

Horst Schlösser war mehr Freund als Betreuer. Und sein Programm die pure Freude an der gemeinsamen Zeit anstatt Dienst nach Vorschrift. So ging es am Tag vor dem Spiel nicht selten vom Flughafen direkt in den Hamburger Hafen, um den Abend im legendären Fischereihafen-Restaurant von Rüdiger Kowalke zu genießen. Und nach dem Spiel verbrachten das Schiedsrichter-Gespann und Schlösser den Abend gern im Portugiesen-Viertel an den Landungsbrücken, ehe es am Tag danach wieder zum Flughafen ging. „Ich bin immer gern nach Hamburg gekommen und dieses gewohnte Programm an den Abenden vor und nach dem Spiel war für mich immer ein Highlight“, schrieb FIFA-Schiedsrichter Wolfgang Stark zum Abschied in den Ruhestand, verbunden mit der Ankündigung: „Wenn ich als Schiedsrichter-Beobachter mal nach Hamburg komme, würde ich mich freuen, das altbekannte Prozedere zu wiederholen.“ So entstanden enge Verbindungen, die auch über all die Jahre gehalten haben.

Diese Kontakte waren es wert, dass Familie Schlösser ihr Privatleben dem HSV unterordnen musste. Urlaube, Theaterbesuche – alles wurde nach dem Spielplan ausgerichtet. „Wir als Familie haben das mitgetragen und unterstützt“, sagt Horsts Ehefrau Ute, „wir haben dadurch so viele tolle Momente gesammelt und besondere Menschen kennengelernt, zu denen wir auch heute noch Kontakt haben, das ist einfach wunderbar.“ Hellmut Krug, Herbert Fandel, Felix Brych, Florian Meyer und einige andere waren es, die sich stets direkt nach der erfolgten Ansetzung für ein HSV-Spiel bei Horst Schlösser meldeten, um alles zu planen. Und: Den Kontakt suchten die Schiedsrichter mitunter sogar, wenn sie gar nicht den HSV pfiffen, wie Schlösser mit einem Schmunzeln erzählt – auch eine Ansetzung beim Stadtrivalen kann schließlich eine wunderbare Gelegenheit sein, sich am Abend des Spiels in der Stadt zu treffen.

So wurden unzählige gesellige Stunden verbracht. Aber: Rund um die 90 Minuten, da herrschte Anspannung. „Auf dem Weg ins Stadion war es im Auto immer sehr ruhig, da konnte man die Konzentration förmlich greifen“, so Schlösser. Und in der Schiedsrichterkabine im Bauch des Volksparkstadions herrschte ebenfalls Hochspannung. Auch bei Schlösser selbst, der die 90 Minuten fast nie im Stadion verfolgte, sondern sich lieber in der Kabine aufhielt. „Ich wollte keinen Herzinfarkt riskieren, zu sehr habe ich mit dem HSV mitgefiebert – und mit meinen Schiedsrichtern. Ich mochte das nicht hautnah miterleben, wenn die 50.000 Menschen im Stadion auf sie geschimpft und sie ausgepfiffen haben. Daher bin ich lieber in der Kabine geblieben und habe das Spiel auf dem kleinen Fernseher verfolgt, aber auch das mit hochrotem Kopf. Ich möchte nicht wissen, wie während der Spiele mein Blutdruck aussah“, blickt Schlösser zurück.

Er tut dies ohne Wehmut. Die Entscheidung, nach 36 Jahren die Aufgabe an seinen Nachfolger weiterzureichen, war nicht von langer Hand geplant, sondern fiel plötzlich. Nach dem Saisonende. Ein bisschen aus dem Nichts. „Ich saß morgens auf dem Balkon, trank Kaffee und dachte auf einmal: Ich bin jetzt 80 Jahre alt, ich glaube, jetzt ist ein guter Zeitpunkt, um aufzuhören.“ Und so teilte er seinen Entschluss mit der vollen Unterstützung seiner Frau und der Familie dem HSV mit. Selbstbestimmt und mit einem guten Gefühl: „Ich bereue keine Minute, es hat mir so viel Spaß gemacht, aber ich habe aus voller Überzeugung entschieden, die Aufgabe jetzt abzugeben.“

Eine Rolle spielte hierbei auch die Tatsache, dass sich – genau wie der Fußball selbst – auch das Schiedsrichterwesen in den letzten Jahren verändert hatte, professioneller geworden war. „Die ältere Generation der Schiedsrichter ist weg und die jungen Kerle handhaben es anders: Nach der Anreise geht es direkt zur Vorbereitung ins Hotel und nach dem Spiel wollen sie vom Stadion sofort zum Flughafen“, skizziert Schlösser die Unterschiede zur alten Garde der Unparteiischen. Übel nimmt er es den jungen Kollegen keinesfalls: „Die Schiedsrichter pfeifen heute so viele Spiele, haben so viele Termine, daher ist das auch verständlich. Außerdem ist das eine ganz andere Generation, alles ist immer professioneller geworden und die jungen Kollegen immer fokussierter.“

Was bleibt, sind viele tolle Erinnerungen an große Persönlichkeiten wie Dr. Markus Merk („Ein ganz toller Mensch, mit ihm und seinem Vater habe ich nach einem Spiel einen sehr amüsanten Abend auf der Reeperbahn verbracht“) oder Hellmut Krug („Er schrieb mir mal nach einem Spiel einen Brief, in dem er sich für seine Laune entschuldigte, nachdem das Spiel schlecht gelaufen war“) und viele andere große Namen des Schiedsrichterwesens. Grund genug, als gesamter HSV und auch im Namen des deutschen Schiedsrichterwesens Horst Schlösser hiermit einen großen Dank für 36 Jahre Treue und tolle Arbeit auszusprechen – und ganz nebenbei auch nochmal einen genaueren Blick auf die Zunft zu werfen, die Horst Schlösser in Hamburg und im Volksparkstadion knapp vier Jahrzehnte lang betreut hat: unsere Schiedsrichter.

Seit der Bundesliga-Gründung im Jahre 1963 pfiffen insgesamt 213 verschiedene Unparteiische die HSV-Liga-Heimspiele – 195 davon in der Bundesliga, bislang 18 in der 2. Bundesliga und zwölf sowohl in Liga 1 und 2. Von Ahlenfelder bis Zwayer – im Folgenden möchten wir einen Überblick geben über die größten Persönlichkeiten, die Dauerbrenner und die kuriosesten Geschichten und Statistiken aus dem Volksparkstadion und der spannenden Welt der Schiedsrichter, denn nicht nur Horst Schlösser weiß – in Anlehnung an eine DFB-Kampagne aus den 90er-Jahren – ganz genau: Ohne Schiri geht es nicht!

Der Erste

Günther Baumgärtel aus dem westfälischen Hagen leitete am 31. August 1963 die Bundesliga-Heimpremiere des HSV gegen den 1. FC Saarbrücken. Der HSV gewann mit 4:2.

Der Häufigste

Dr. Markus Merk hat die meisten Spiele aller Schiedsrichter im Volkspark geleitet. Zudem ist er der Elfer-König, gleich neunmal zeigte er auf den Punkt. Und auch ein Freistoß-Pfiff ist weltberühmt: im Saison-Finale 2001 gegen die Bayern entschied er in der Nachspielzeit diskutabel auf Rückpass und damit auf Freistoß für die Bayern. Der Rest sollte bekannt sein.

Der Bunteste

Hartmut Strampe stellte am 15. September 1996 den bis heute gültigen Volkspark-Kartenrekord auf. Im Derby gegen den FC St. Pauli (3:0) zückte er 9x Gelb, 1x Gelb-Rot (für Sven Kmetsch) und 1x glatt Rot (für Stefan Schnoor, Foto). Ein bunter Strauß Karten.

Der Aktuellste

Martin Petersen, der das jüngste Heimspiel gegen Dynamo Dresden leitete und dabei eine sehr gute Figur abgab. Es war sein erster Einsatz im Volksparkstadion.

Der Konsequenteste

Herbert Fandel – von Beruf ein Virtuose, nämlich Konzertpianist – zeigte im Volksparkstadion nicht immer Fingerspitzengefühl. Auf sein Konto gehen nämlich die meisten Platzverweise, neun an der Zahl: 5x Gelb-Rot, 4x Rot. Da musste sogar der Tiger gezähmt werden.

Der Gelbste

Wolfgang Stark schaffte es am Ende nicht ganz, Dr. Markus Merk noch in der Gesamttabelle der meisten Spiele zu überholen, dafür aber in der Rangliste der meisten Gelben Karten. Zum Abschluss machte er eine runde Summe draus: exakt 100 Gelbe Karten im Volkspark.