OLIVER KIRCH verbrachte seine gesamte Profi-Karriere sowie seine bisherige Trainerlaufbahn vor allem im Westen der Bundesrepublik. Mit seinem Wechsel zum Hamburger SV nimmt sich der 38-jährige A-Lizenz-Inhaber einer neuen Herausforderung an und möchte seine Spielidee nun den Nachwuchstalenten im Norden vermitteln.

32 Trainingseinheiten, sechs Testspiele und viele persönliche Gespräche: Der Terminkalender von Oliver Kirch bot in den fünf Wochen der Sommervorbereitung kaum Platz zum Durchatmen. Der langjährige Bundesliga-Spieler wechselte im Juni aus dem Nachwuchsleistungszentrum von Arminia Bielefeld zum Hamburger SV und ließ in den ersten Wochen seiner Amtszeit als Cheftrainer der U19 direkt durchblicken, wie er die A-Junioren zum Erfolg führen will: Mit maximalem Einsatz und einem Optimismus, der in einem unerschütterlichen Glauben in die eigenen Stärken mündet. Das Credo des 38-Jährigen: einfach machen! „Ich habe im Laufe meiner Karriere gelernt, dass es guttut, gewisse Dinge nicht zu lange in einem theoretischen Rahmen zu überdenken, sondern sie schlicht und einfach auszuprobieren. Das möchte ich auch den Jungs auf dem Platz mitgeben: Macht, traut euch, seid mutig! Ich glaube, nur so können meine Spieler ihre Position finden und ihren Weg im Fußball gehen.“ Zum Saisonstart in der Staffel Nord/Nordost der A-Junioren Bundesliga sprach der A-Lizenz-Inhaber im HSVlive-Magazin über seine Trainerphilosophie, die Besonderheit einer A-Jugend sowie seinen Umgang mit jungen Spielern.

Sechs Testspiele und zahlreiche Einheiten absolvierte die U19 in der Sommervorbereitung. Cheftrainer Oliver Kirch ist mit der Vorbereitungszeit zufrieden und freut sich nun auf die Rückkehr in den Pflichtspielbetrieb.

Oliver, du bist vor gut zwei Monaten aus Bielefeld ins HSV-Nachwuchsleistungszentrum gewechselt. Wie ist dein erster Eindruck vom Norden?
Hamburg ist mir als Stadt nicht ganz unbekannt, sondern war für meine Frau und mich schon immer ein Ort, an dem wir uns gut vorstellen konnten zu leben. Wir haben viele freie Wochenenden hier verbracht, meine Frau hatte auch über die Arbeit viele Kontakte nach Hamburg. Letztlich ist es auf Grund unserer Familien dann Bielefeld geworden. Wir haben uns damals dort kennengelernt und unsere Familien leben beide in der Nähe. Deshalb war irgendwann klar, dass wir uns dort niederlassen werden. Jetzt an beiden Orten leben zu können, ist für uns schon ein kleiner, wahrgewordener Traum.

Du warst als aktiver Spieler mit Stationen in Gladbach, Bielefeld, Kaiserslautern, Dortmund und Paderborn vor allem bei den Westclubs Deutschlands im Einsatz, deine Familie lebt, wie du schon angesprochen hast, auch in Westfalen. Wie hast du den Schritt empfunden, nun aus deiner Heimat wegzuziehen?
Das war schon aufregend. Ich bin Ende Juni hier angekommen und habe ein paar Tage gebraucht, um mich einzufinden, weil der Campus und der Verein insgesamt schon größer sind als ich das aus Bielefeld kenne. Hieß für mich also: viele neue Personen kennenlernen, Abstimmungswege kennenlernen, ein Gefühl für das Miteinander im Verein bekommen. Und ich musste erst einmal sortieren, was ich davon wie nutzen kann. Wie binde ich die Videoanalyse mit ein? Wie die Athletik? Wir haben im Haus für all diese Bereich Experten, das erleichtert die Arbeit ungemein. Aber es ist natürlich eine Herausforderung, herauszufinden, wie wir das sinnvoll einbinden. Unter dem Strich habe ich mich aber sehr schnell eingefunden, weil mir die Leute echt geholfen haben. Allen voran mein Co-Trainer Lennart Gudella, der schon sechs Jahre hier ist. Lennart kennt jeden Mitarbeiter, jeden Winkel des Gebäudes und auch unsere Spieler sowie die Jungs aus jüngeren Jahrgängen. Meine Mannschaft habe ich dann aber wirklich erst auf dem Trainingsplatz kennengelernt.

Die Option, Fußballtrainer zu werden, scheint für viele Spieler attraktiv zu sein. Bei uns im NLZ arbeiten ebenfalls viele ehemalige Bundesliga-Spieler nun in anderen Funktionen. Wie war das bei dir? Wann wurde dir klar, dass du auch nach deiner aktiven Karriere im Fußball bleiben möchtest?
Dieser Gedanke hat sich im Laufe meiner Karriere festgesetzt. Richtig konkret wurde es dann, als ich Jürgen Klopp in Liverpool besucht habe und ihn um eine Einschätzung gebeten habe. Ich habe mir das Spiel gegen Manchester City angeguckt und mich anschließend noch mit Kloppo getroffen. Ein Wahnsinnstrainer, von dem ich unfassbar viel mitgenommen habe. Als ich ihm von meinem Plan erzählt habe, möglichst viele Hospitationen zu absolvieren und überall mal reinzuschauen, meinte er: „Gute Idee, aber weißt du, was noch viel besser ist? Probier’s einfach selbst aus!“ Und er hatte recht. Zurück in der Heimat bin ich dann zur Arminia und habe einfach nachgefragt, ob im NLZ eine Position für mich frei ist. (lacht) Eine Woche später stand ich dann auf dem Trainingsplatz, war zunächst Co-Trainer der U21 und dann irgendwann auch Cheftrainer im Nachwuchs. Das war der Stein, der alles ins Rollen gebracht hat. Parallel dazu habe ich dann meine Trainerlizenzen erworben.

Wie war dein Eindruck von der Mannschaft, als du sie kennengelernt hast? Worauf legst du im Umgang mit den Jungs wert?
Die Jungs waren am Anfang eher verschlossen, ruhig und brav. Das finde ich auch völlig in Ordnung, ich war schließlich ein neuer Trainer, der erst kurz vor Beginn der Vorbereitung zum Verein gestoßen ist. Ich bin aber der Meinung, dass die Jungs diese Zurückhaltung ablegen dürfen, wenn wir den Fußballplatz betreten. Dann erwarte ich von ihnen, dass sie offen und lautstark miteinander kommunizieren. Ich habe von Beginn an versucht, sie mit meiner Art mitzunehmen. Mir ist wichtig, kommunikativ zu sein und die Spieler zu ermutigen, mit mir in Kontakt zu treten und nicht alles immer nur aus dem Trainerstab heraus vorzugeben. Eine Mannschaft lebt letztlich immer aus sich selbst heraus. Wir im Trainerteam können und müssen gewisse Impulse setzen, aber der Kern kommt von den Jungs selbst. Dazu will ich sie ermutigen und habe im Laufe der Vorbereitung jeden meiner Spieler auch noch einmal zum Einzelgespräch eingeladen, um die Vorbereitung Revue passieren zu lassen. Dort habe ich auch erwartet, dass sich jeder selbst äußert: Was ist ihnen aufgefallen? Wo sehen sie sich selbst, wie schätzen sie das Team ein? Was hat ihnen in der Vorbereitung vielleicht auch gefehlt, was haben sie vermisst? Kommunikation ist mir einfach sehr wichtig.

Kommunikation als Schlüsselwort: Kirch pflegt mit seinen Spielern einen offenen und ehrlichen Austausch.

Würdest du das auch als deine Philosophie bezeichnen? Oder anders gefragt: Gibt es die vielzitierte Trainer-Philosophie, der man als Cheftrainer immer treu bleiben sollte? Oder variiert die von Mannschaft zu Mannschaft?
Definitiv sollte jeder Trainer eine Philosophie haben, die du dann auf die Spieler, die dir zur Verfügung stehen, anpassen musst. Du kannst als Trainer nicht hingehen und sagen „das habe ich im Kopf, so machen wir das jetzt und so möchte ich spielen lassen“, wenn dir die Charaktere oder die Qualität auf den einzelnen Positionen fehlt. Aber grundsätzliche Dinge, die positions- und systemunabhängig sind, also vor allem die Haltung, die wir auf und auch neben dem Platz ausstrahlen und vertreten wollen, die empfinde ich für einen Trainer schon als essenziell. In meinem Fall heißt das: Ich will, dass die Jungs mutig und aktiv sind. Dass sie sich selbst zugestehen, Fehler machen zu dürfen und in ihrem Denken positiv optimistisch, also vorwärtsgerichtet sind. Jeder Spieler soll Dinge ausprobieren dürfen. Etwas wieder zu versuchen, auch wenn es vorher ein-, zwei-, drei- oder zehnmal nicht funktioniert hat, das ist für mich Mut. Daraus zu lernen, gewisse Dinge punktuell anzupassen, aber ihre Idee, die sie haben, immer wieder auszuprobieren. Das erwarte ich. Wenn du auf dem Fußballplatz stehst und ein Trikot anhast, darfst du alles zeigen, was du hast. Als ich hier im Campus angefangen habe, hatte ich das Gefühl, dass sich einige Spieler noch etwas zurückgehalten haben, dass sie nicht All In gegangen sind. Das verstehe ich nicht. Du musst das rauslassen, du musst alles auf dem Rasen lassen. Ich habe als Trainer noch nie jemanden für einen Fehlpass oder einen verlorenen Zweikampf kritisiert, sondern bin eher zornig, wenn er gar nicht erst versucht, den Pass zu spielen oder den Zweikampf anzunehmen. Alles andere kann passieren. Aber eine grundoptimistische Haltung, mit der die Spieler die Sache angehen, die möchte ich entwickeln.

In Bielefeld warst du analog zu deiner jetzigen Position zuletzt als Trainer der U19 aktiv. Was macht die A-Junioren so reizvoll für dich?
Es ist eine wirklich spannende Altersklasse, weil sich die Jungs aus fußballerischer und auch aus persönlicher, menschlicher Sicht auf dem Sprung ins Erwachsenenalter befinden. Die Erfahrung, dass sie in dieser Altersklasse vor allem in der Gruppe eher zurückhaltend sind und nicht unbedingt herausstechen oder auffallen wollen, habe ich auch in Bielefeld schon gemacht. Dass sie sich erst mit der Zeit öffnen und sich mehr zutrauen. Das ist ein Prozess, den du als Trainerteam anstoßen musst. Ich habe mittlerweile auch das Gefühl, dass unsere Jungs auf dem Trainingsplatz viel lauter sind, dass das Miteinander insgesamt lebhafter und kritischer zugleich ist. Und sie zeigen einen ausgeprägten Siegeswillen – sowohl in den Testspielen als auch in kleinen Spielformen im Training. Da sehe ich uns auf einem guten Weg.

Wenn man sich die oberen Ligen anschaut, dann gehen immer mehr junge Spieler den direkten Weg von der A-Jugend in die Bundesliga-Mannschaften und nehmen nicht den „Umweg“ über eine U21. Ist es auch dein Ziel, möglichst viele Spieler direkt in den Profibereich zu befördern?
Im Optimalfall haben wir natürlich Spieler, die den Sprung in den Profibereich direkt schaffen, die die Anforderungen des Herrenfußballs direkt adaptieren können. Aus meiner Erfahrung heraus weiß ich aber, wie gut dieser Zwischenschritt über die U21 ist. Deshalb finde ich es persönlich superwichtig für jeden Verein, eine Zwischenstufe in Form einer U21 oder U23 zu haben. Es gibt eben sehr viele Spieler, die sind mit 17 oder 18 noch nicht fertig, die brauchen nochmal diese Akklimatisierung mit dem Seniorenfußball über ein oder zwei Jahre. Ich selbst bin ja das beste Beispiel dafür. Ich war mit 18 noch lange nicht ausgewachsen und hatte keine Chance, im Profibereich auf mich aufmerksam zu machen. Das kam dann bei mir erst mit Anfang zwanzig. Ich weiß also, wie viel diese Zeit wert sein kann.

Welches sind die Entwicklungsschritte, die die Spieler deiner Altersklasse noch nehmen müssen?
Fußballerisch sind die Spieler alle auf einem sehr guten Niveau angekommen, da geht es nur noch um Nuancen. Härte und körperliches Dagegenhalten sind aber für die Jungs oft neu, wenn sie nicht mehr nur auf gleichaltrige Gegenspieler treffen. Wir haben das in der Vorbereitung zum Beispiel gegen HSV III gemerkt, da haben wir uns echt einschüchtern lassen. Das war schon ein Thema.

Wie stehst du im Austausch mit dem Trainerteam der U21 rund um Cheftrainer Pit Reimers?
Unsere Trainerbüros liegen direkt nebeneinander, wir haben einen engen Draht. In der Vorbereitung haben sechs, sieben meiner Jungs nahezu vollständig bei der U21 trainiert und auch gespielt. Jetzt kommen sie teilweise wieder zurück und werden mit uns in die Meisterschaft starten. Das ist aber sehr individuell. Wenn wir merken, dass es den Spielern guttut, bei Pit zu spielen und sich dort durchzusetzen, werden wir das immer mal wieder machen. Der Kader der U21 ist im Vergleich zu unserem auch bewusst etwas kleiner gehalten, um so immer wieder weitere Spieler integrieren zu können.

Den Auftakt in die neue Saison habt ihr am vergangenen Sonnabend gegen RB Leipzig absolviert. Wie groß war – trotz der Niederlage – die Freude, endlich wieder auf dem Platz stehen zu dürfen?
Den Jungs hätte emotional vermutlich eine Woche der Vorbereitung gereicht, so heiß waren sie darauf, endlich wieder ein Pflichtspiel zu absolvieren. (lacht) Die Vorfreude war nach der langen Zwangspause riesig. Meine Mannschaft lechzt nach Herausforderungen, das haben wir auch in den Testspielen festgestellt. Deshalb freuen wir uns riesig darauf, wieder im Wettbewerbsmodus zu sein und hoffen, dass wir in dieser Saison möglichst viele Pflichtspiele absolvieren können.

Mit welchen Zielen geht ihr die Spielzeit in der A-Junioren-Bundesliga an?
Ich tue mich schwer damit, ein in Zahlen definiertes Ziel auszugeben. Zum einen können wir unsere Mannschaft noch nicht komplett einschätzen, denn in der Vorbereitung waren einige der Jungs wie gesagt permanent mit der U21 unterwegs, andere kommen jetzt erst aus Verletzungen zurück. Da werden wir einige Spiele benötigen, um ein Gefühl dafür zu bekommen, wie wir uns anstellen. Zum anderen weiß man auch noch nicht, wozu die anderen Mannschaften imstande sind. Deshalb haben wir für uns eher Schlagworte festgelegt, die wir auf dem Feld und auch in der Kabine umsetzen wollen. Welche das sind, das bleibt allerdings zwischen der Mannschaft, dem Trainerteam und mir.

Als Spieler absolvierte Oliver Kirch insgesamt 170 Bundesliga- und Zweitliga-Partien, kam zudem 19 Mal im DFB-Pokal sowie sechsfach in der Champions League zum Einsatz. Der HSV ist nun der zweite Verein in seiner Trainerlaufbahn.