Wie viele der richtig guten Geschichten, stimmt auch diese wohl nur so halb. Über die Jahre angereichert, beim Wieder- und Nacherzählen noch um eine weitere Arabeske verziert, mit einer zusätzlichen Schleife aufgehübscht. Faktenlage wackelig bis fragwürdig. Und doch: Sie gehört zur Legendenbildung. Und sie ist einfach zu gut, als dass wir hier, in unserem stets sorgfältig recherchierten Lieblingsmagazin, darauf verzichten könnten, sie noch ein weiteres Mal zu kolportieren. Die Legende geht so: Sommer 1981, Ochsenzoll, Ernst Happels Trainingsdebüt beim HSV. Für die erste Übung lässt der Neue den langen Horst Hrubesch eine Bierdose auf den Querbalken legen. Der Trainer legt sich den Ball im Anstoßkreis zurecht, schießt die Büchse im ersten Versuch zielsicher herunter und befielt seinen Spieler knapp: „Nachmachen!“ – Außer Franz Beckenbauer schafft das kein Profi. Dann zielt nochmal Happel – und trifft erneut.
Weltauswahl-Spieler Happel (stehend, 2.v.l.), am 30. September 1953 beim Spiel gegen den FC Barcelona in Amsterdam (5:2), u.a. an der Seite von Branko Zebec (r.).
Es gibt Versionen dieser Geschichte. Mit unterschiedlichen Zutaten: Cola- statt Bierdose, Platzwart statt Hrubesch, Sechzehnerkante statt Mittelkreis, Trainingsende statt -beginn, nur Wuttke als Schütze statt der komplette Kader. Vor allem aber: Den Haag statt Hamburg. Angesprochen auf diese Story, erklärte Ernst Happel: „Eine erfundene Sache.“ Nach kurzer Pause: „Etwas Wahres ist aber dran.“ Und noch etwas später: „Unter den Journalisten gibt es einige Poeten.“
„Aschyl“, der Zauberer
Der Spieler Ernst Happel war ein Produkt der großen österreichischen Fußballzeit: Geboren 1925 als Sohn zweier Wirtsleute, aufgewachsen bei der Großmutter in Wien-Breitensee, erlebte er als Kind die Ära des „Wunderteams“ ebenso hautnah mit wie die umjubelten Triumphe der Wiener Clubs Rapid, Austria und Vienna im Mitropacup, einem Vorläufer des Europapokals. Ernstl, ein Straßenkicker, begann mit dem organisierten Fußballspielen im Alter von acht Jahren im Nachwuchs von Rapid Wien, bereits mit 16 debütierte er in der Ersten, der „Kampfmannschaft“, ehe auch er zum Kriegsdienst eingezogen wurde. Nach Kriegsende avancierte er schnell zur Stammkraft in der Verteidigung der Grün-Weißen aus Hütteldorf und zur festen Größte im Nationalteam. Ein charismatischer Publikumsliebling, der durch seine Souveränität und Geschicklichkeit als Stopper, durch Ballgefühl und taktische Reife begeisterte. Seine spielerischen Qualitäten brachten Happel den Beinamen „der Zauberer“ ein, von Freunden und Fans wurde er zudem auch „Aschyl“ gerufen. Dieser Spitzname soll während einer Tournee Anfang der 1950er-Jahre entstanden sein, als die Rapidler in Istanbul einen türkischen Film im Kino anschauten, in dem ein Haremswächter namens „Aschyl“ auftauchte, der Happel zum Verwechseln ähnlich sah. Manch Weggefährte behauptete allerdings hartnäckig, der Name beruhe auf Happels Spezialität, den Ball filigran mit dem Hintern stoppen zu können. Daher der Ehrentitel „Arschil“.
WM-Spieler Happel (M.), im Halbfinale 1954 von Basel gegen Deutschland (1:6) mit Torwart Walter Zeman (l.) und Hans Schäfer (r.).
Max Merkel, von 1946 bis 1954 Happels Abwehrkollege und von 1956 bis 1958 auch dessen Trainer bei Rapid, charakterisierte seinen langjährigen Weggefährten im Sommer 1981, anlässlich dessen Amtsantritt beim HSV, in einem Gastbeitrag für das Nachrichtenmagazin „Der SPIEGEL“: „Der Happel (…) mied Zweikämpfe ebenso wie lange Läufe. Er spielte Fußball so wie Paganini Geige. Flugbälle konnte er sogar mit dem Hintern stoppen. Als ihn ein Stürmer mal deswegen Arschloch nannte, sagte er ,Danke‘. Typen wie er waren wohl schon vor dem Ball da. Der Aschyl schien für den Fußball gebaut zu sein. Beine: O-Form. Füße: Plattsohle mit Stromlinie. Hüfte: Tangogleiter. Stirn: breitflächig, ausreichend für jede Ballgröße. Augen: auseinanderliegend. Dadurch blickte er nach rechts und links wie ein Weitwinkelobjektiv. Nach unten sah er nie, den Ball spürte er blind.“
Trainer Happel (r.) und seine Stammkräfte Stein, Jakobs und Kaltz (v.l.) beim letzten gemeinsamen Auftritt, dem Pokalsieg 1987 in Berlin.
Ein echter Schla-Wiener, noch dazu ein Schmähführer vom Feinsten, um einen lockeren Spruch oder eine kreative Ausrede nie verlegen. Merkel weiter: „Wenn‘s hart im Training wurde, Kompaktprogramm nannte ich das, machte mich der Happel weich. Der hatte immer was, um vorzeitig in den Kabinen zu verschwinden. Schaden am Schuh, Schmerzen im Knie, Krächzen im Rachen, Übelkeit im Pansen. Im Spiel war er nie schlecht. Wir wurden Meister, und ich ging nach Holland. Zum Abschied sagte ich dem Aschyl: ,Wenn du mal Trainer bist, wünsch ich dir einen Hund wie dich als Spieler.‘“
Insgesamt 50 eingesetzte Spieler in 260 HSV-Pflichtspielen unter Ernst Happel zwischen 1981 und 1987. Quelle: Broder-Jürgen Trede
Wortkarger Disziplinfanatiker, ausgelassener Lebemann
Erstaunlich, wie ein derart genial-schlampiger Spieler zu einem Trainer werden konnte, der höchsten Wert auf Disziplin und Pünktlichkeit, Kondition und Trainingseifer legte. „Ohne intensive, harte Arbeit geht beim Spitzenfußball gar nichts“, erklärte Happel seine Maxime, bei deren Umsetzung er beim HSV stark von seinem Vorgänger Branko Zebec profitierte. Auf Basis maximaler Ausdauer feilte Happel zunächst an der Taktik und zuletzt an der Technik – immer unter Berücksichtigung der individuellen Fähigkeiten einzelner Spieler. Happels Trainingsformen, etwa das Spiel auf sechs Tore, das rasches Umschalten und -denken erforderte, oder Spezialregeln, nach denen nur Abwehr- und Mittelfeldspieler Tore schießen durften, was kraftraubende Sprint förderte, forcierten die Technik bei höchsten Tempo. Die Resultate dieser Arbeit konnten sich wahrlich sehen lassen, nicht nur beim Blick auf die Tabelle. Happels HSV „überrannte“ den Gegner buchstäblich, stand vorne wie hinten hoch. Der Österreicher perfektionierte die von Zebec eingeführte Raumdeckung und kombinierte sie mit etwas völlig Neuem: einem extrem aggressiven Pressing. Und vor dem eigenen Tor schnappte in nahezu perfekter Manier und zur Verzweiflung des Gegners die Abseitsfalle zu. „Ein 5:4 ist mir lieber als ein 1:0“, erklärte Happel. Etwas Oranje hatte abgefärbt. Der „voetball totaal“, den Happel zuvor selbst in Den Haag, bei Feyenoord und als Bondscoach mitgeprägt hatte, wurde plötzlich auch in der Bundesliga zelebriert: Drei der bis heute fünf torreichsten HSV-Profi-Saisons sind „Happel-Jahre“. Gleich in der meisterlichen Premieren-Spielzeit 1981/82 strapazieren Hrubesch, Hartwig, Bastrup & Co. sagenhafte 95-mal das gegnerische Tornetz!
Unvergessen: Die Stadt Wien benannte unmittelbar nach dem Tod ihres großen Sohnes das „Praterstadion“ um, und die Stadt Rotterdam widmete ihm 1997 in unmittelbarer Nähe des Feyenoord-Stadions „De Kuip“ die „Ernst Happelstraat“. Der HSV ehrte seinen erfolgreichsten Trainer am und im Volksparkstadion mit einer Bronzeplatte auf dem Walk of Fame (9/2011) sowie im Vereinsmuseum mit einer eigenen Vitrine und einer Sonderausstellung (4/2015-1/2016).
Noch etwas wortkarger und schroffer als ohnehin schon war Happel im Umgang mit den Medien. Pressekonferenzen hielt er für „reine Zeitverschwendung“. „Schreib’ns‘, was woll’n. Is’ mir eh wurscht!“ Oft beschränkte sich Happel in seinen Statements auf nur wenige Sätze oder Sekunden. Legendär seine Analyse zur überraschenden Herbstmeisterschaft, kurz vor Weihnachten 1986: „Ich wünsche allen Beteiligten angenehme Feiertage.“
Happel differenzierte konsequent zwischen Arbeit und Privatleben. Auch in seinem Auftreten. Ausnahmen bestätigen die Regel: Unvergesslich für alle Zeitzeugen Happels Auftritt am 25. Mai 1983 in Athen, nach dem Abpfiff des siegreichen Landesmeister-Finales gegen Juventus. „Da drehte er völlig ab“, erinnert sich Torwart Uli Stein an seinen Trainer, der mit der Mannschaft auf die Ehrenrunde ging und auf der Laufbahn ein Tänzchen hinlegte. Stein: „Er ließ sich gehen in einer Art und Weise, die vorher für so unwahrscheinlich gehalten wurde wie ein öffentlicher Auftritt des Papstes in Badehose.“
Homo ludens und Luder Happel: „Dienst ist Dienst, und Schnaps ist Schnaps.“
Sein ausgelassenes Naturell präsentierte Happel ansonsten nur in der Freizeit und „zu Hause“, in seinen erweiterten Wohnzimmern, etwa dem Café Ritter in Ottakring, beim Heurigen in Döbling oder Sooß oder beim Zocken im Stammcasino. Bemühen wir noch einmal Max Merkel: „(…) außerhalb des Spiels war dieser Homo ludens ein Luder. Happel ist die präziseste Auslegung für den alten k.u.k.-Spruch ,Dienst ist Dienst, und Schnaps ist Schnaps‘. Alles was mit F anfing, gefiel ihm. Film, Frauen, Feuerwasser, Fidelitas aller Art. Aber auch bei Skat, Poker und Roulette war er dabei.“
Happel wusste zu leben, und er wusste, wann Schluss war (außer vielleicht beim Rauchen). Als er 1987 Hamburg verließ und nach Österreich zurückkehrte, sagte er: „Sechs Jahre sind genug. Ich mag das nicht, dass meine Enkel ständig von Opa Hamburg reden!“ Und versöhnlich schob er nach: „Ich werde dem HSV immer verbunden bleiben, weil ich hier ungestört und profihaft arbeiten konnte.“