Meine Zeit als Jugendtrainer meines Herzensvereins endete dann aber auch nach nur anderthalb Jahren schon wieder. Ende 2012 musste ich mich verändern, ich musste nach meinem Abi und meinem Freiwilligen Sozialen Jahr, das ich beim Hamburger Fußball-Verband absolviert hatte, beruflich etwas auf die Beine stellen. Ich wollte studieren – und so verschlug es mich nach Osnabrück. Diesen Weg habe ich damals bewusst gewählt, denn eine Stadt, in der der Fußball keine große Rolle spielt, wäre für mich nicht in Frage gekommen. Aber Osnabrück, das konnte ich mir vorstellen. In den Jahren zuvor hatten an der Bremer Brücke tolle Pokalspiele stattgefunden, unter anderem gegen den HSV, aber auch gegen Schalke 04 und Borussia Dortmund. Der VfL und das Stadion an der Bremer Brücke waren mir deshalb sehr bekannt. Und da mein Plan definitiv darin bestand, in der Stadt meiner Uni auch im Fußball Fuß zu fassen, fiel die Entscheidung pro Osnabrück. Eine gute Entscheidung, wie sich herausstellen sollte, denn so wurde mein Weggang aus Hamburg gleichzeitig der erste Schritt zur Rückkehr in meine Heimatstadt.
Die Verantwortlichen aus dem HSV-Nachwuchs hatten damals für mich beim VfL Osnabrück vorgefühlt, den Kontakt hergestellt und mich für eine Arbeit im Nachwuchs des VfL empfohlen. So entwickelte es sich auch, so dass ich parallel zum Studium dort arbeiten konnte und später als U17-Trainer von Daniel Thioune auserkoren wurde, gemeinsam mit ihm die erste Mannschaft zu übernehmen, die in großen Abstiegssorgen steckte. Doch wir schafften den Klassenerhalt in der 3. Liga, stiegen im nächsten Jahr sogar in die 2. Liga auf und feierten dort dann ebenfalls den Klassenerhalt. Dieses gemeinsame Projekt von Daniel und mir verlief also über alle Maßen positiv, dies war unsere Mannschaft, unser Baby, das wir großgezogen hatten. Das war schon absolut besonders für mich als Trainer, ein solches Projekt mitgestalten zu können.
Dann aber stand Daniel plötzlich vor mir und sagte: „Wir haben ein Angebot aus Hamburg.“ Und ich war happy, denn mit meiner langjährigen Freundin, die gerade aus Hamburg zu mir nach Osnabrück gezogen war, würde ich nun vielleicht in unsere Heimatstadt zurückgehen können. Bei allem Erfolg, den wir in Osnabrück gehabt hatten, spürte ich in diesem Moment eine riesengroße Freude. Klar, Trainer beim FC St. Pauli zu werden, damit musste ich mich natürlich aufgrund meiner sehr intensiven HSV-Vergangenheit irgendwie arrangieren, aber im Vordergrund stand: Wir können nach Hause, wir gehen nach Hamburg. Doch dann schaute Daniel mich an und sagte: „Ich spreche nicht von St. Pauli, ich spreche vom HSV.“ Und was in diesem Augenblick in mir passierte, das kann man mit Worten gar nicht beschreiben. Dort, wo ich als kleines Kind mit meinem Vater auf dem Rasen gestanden, meine Jugend auf den Tribünen verbracht und mit unglaublich viel Stolz als Jugendtrainer die Raute auf meinem Trainingsanzug getragen hatte, dort sollte ich fortan zum Trainerstab der Profis gehören? Ich war einfach nur glücklich und niemand wird begreifen können, was mir dieser Augenblick bedeutet hat.
Ich denke schon, dass ich selbstbewusst bin. Ich weiß, dass ich in der Entwicklung von Spielern gute Arbeit mache, dass ich Dinge vorantreiben und die Spieler besser machen kann. Ich trage das auch selbstbewusst nach außen und bin überzeugt von mir und dem, was ich tue. Aber in die Gespräche mit Jonas Boldt mischte sich zu all meiner Überzeugung auch eine gehörige Portion Demut. Denn in diesem Fall war es nicht einfach nur ein Bewerbungsgespräch, sondern es ging um den HSV, um meinen HSV. Seitdem versuche ich, die Aufgabe als Job zu sehen. Ohne Emotionen, sondern sachlich und nüchtern die Arbeit zu machen. Würde ich das nicht tun, würde ich während des Spiels permanent völlig wild aufspringen und gestikulieren, was in dem Moment aber niemandem hilft. Früher bin ich als 20-Jähriger am Tag des Rückspiels im UEFA-Cup-Halbfinale in die Kirche gegangen und habe eine Kerze für den Finaleinzug angezündet, jetzt aber muss ich sachlich bleiben und das Geschehen analysieren und die richtigen Schlüsse für die Halbzeitansprache ziehen. Das ist der Job, und dazu zählt eben auch, die Emotionen auszublenden, um den Überblick zu behalten und alles für den größtmöglichen Erfolg zu tun. Ich bin jetzt Trainer, nicht Fan. Und meine Identifikation mit dem HSV verlangt es von mir, dass ich mich zurücknehme. Manchmal wird mir von Außenstehenden meine Art als emotionslos oder antriebslos ausgelegt, was witzig ist, weil es eigentlich das exakte Gegenteil ist. Es braucht so viel inneren Antrieb, um in diesen Situationen die Ruhe zu bewahren.
Ich freue mich aber auch darauf, irgendwann einmal wieder alles ausleben zu können und so wie früher einfach als Fan den Fußball und den HSV zu leben. Morgens Abschlach! zu hören, mich dann in die Bahn zu setzen, meine Kumpels zu treffen und dann durch den Stellinger Tunnel ins Volksparkstadion zu marschieren und einfach nur das Spiel zu genießen und die Fußballromantik wieder zu erleben. Bis es irgendwann in hoffentlich erst sehr ferner Zukunft soweit ist, genieße ich die aktuelle Situation und meine Arbeit, die ich wirklich über alles liebe. Die Arbeit mit den Spielern, im Trainerteam und mit hervorragenden Bedingungen. Und das alles bei meinem Verein.
Bei mir zu Hause hängt an der Wand noch das Mannschaftsbild meiner U9, die ich 2012 trainiert habe. Es erinnert mich daran, wie alles begonnen hat als Trainer beim HSV. Für mich fühlt sich das alles nach einer sehr runden Geschichte an, die ich gern noch viele Jahre fortsetzen möchte. Dafür arbeite ich jeden Tag und bin mir sehr bewusst, dass es ein Privileg ist, für den Club arbeiten zu dürfen, dessen Fan man seit vielen, vielen Jahren ist und der einen sein Leben lang begleitet hat. So gehe ich jeden Tag an und freue mich auf die Arbeit mit der Mannschaft auf dem Platz und natürlich vor allem auf die Wochenenden in einem vollbesetzten Volksparkstadion, wenn der Kessel brodelt und ich dann da unten mittendrin bin – und keine Angst haben muss, dass durch die Lautsprecher eine Stimme ertönt, die mich vom Rasen verjagt.