Hamburger Jung, Fan, Trainer – es ist ein Leben im Zeichen des Fußballs und der Raute, das MERLIN POLZIN führt. Der Co-Trainer der Profimannschaft liebt und lebt seinen Sport und seinen Verein. Und hat seine ganz besondere Geschichte persönlich aufgeschrieben.

Merlin Polzin ist Co-Trainer des HSV. Seines HSV, um es ganz genau und korrekt zu benennen. Denn für Polzin ist der HSV mehr als sein Arbeitgeber. Der HSV, die Raute, das Volksparkstadion – für den 32-Jährigen bedeutet dies Leben, Leidenschaft und Liebe. Angefangen als kleiner Knirps im HSV-Trikot, später erst als Allesfahrer und dann Jugendcoach der Rothosen bis hin zum festen Bestandteil des Trainerteams der Profis. Was wie der wahr gewordene Traum eines jeden HSVers klingt, ist Polzins tatsächlicher Werdegang. Und über den hat er in dem Buch „Hamburger SV – Fußballfibel“ ausführlich berichtet. „135 Jahre HSV, eine Geschichte voller Brüche, Kurven, Ecken und Kanten – so wie die Geschichten seiner Fans, die dieses Buch geschrieben haben“ lautet der Ankündigungstext des im Handel erhältlichen Werkes, zu dem Merlin Polzin seine sehr besondere Geschichte beigetragen hat, die das HSVlive-Magazin an dieser Stelle in Auszügen druckt. Und die man unbedingt gelesen haben sollte.

Dass ich irgendwann einmal wieder dort unten stehen würde, hätte ich mir damals nicht träumen lassen. Dort unten auf dem Rasen des Volksparkstadions, dem Ort, an dem für mich 1995 alles begann. Mein Name ist Merlin Polzin und ich bin Co-Trainer der Profimannschaft des HSV.

Als ich vor einiger Zeit bei meinen Eltern zu Besuch war, haben wir einen ganzen Haufen alter Bilder herausgesucht und gemeinsam in Erinnerungen geschwelgt. Meine Mama hat die alten Fotos herumgezeigt – und da waren sie dann wieder, diese Bilder. In der Hand und im Kopf. Weihnachten 1994, das erste HSV-Trikot. Und einige Wochen darauf der erste Besuch des Volksparkstadions. Ein Besuch, an den ich noch heute sehr oft denke. Damals war es noch das alte Volksparkstadion, die gute alte Betonschüssel mit Tartanbahn, und es war für mich ein unvergessliches Erlebnis an einem Samstagnachmittag. Das Entscheidende dabei: Es fand an diesem Tag gar kein Spiel statt. Trotzdem sind meine Eltern mit mir, meinem Bruder und meiner Oma zum Stadion gefahren, einfach mal gucken. Auch von diesem Tag gibt es noch Fotos, wie wir erst vor dem Stadion stehen – und dann plötzlich mittendrin. Ein Eingangstor stand offen, und so betraten wir das Stadion und waren auf einmal mittendrin. Aber nicht einfach irgendwo im Stadion, sondern wirklich richtig mittendrin: auf dem Rasen. Und dann fingen wir an, dort ein bisschen – mein Vater im Tor, ich habe geschossen – zu bolzen. Solange, bis plötzlich über die Lautsprecheranlage eine sehr deutliche Ansage kam: „Runter vom Rasen, sofort runter vom Rasen!“ Diese Stimme habe ich noch heute im Ohr. Und ich denke oft an sie, wenn ich vor einem Heimspiel den Innenraum des Stadions und den Rasen betrete.

1994, 1995 – das waren die ersten Jahre, in denen mir der HSV begegnete. Damals war ich gerade einmal fünf Jahre alt. Aber zu der Zeit entwickelte sich noch nicht die ganz große Identifikation mit meinem späteren Herzensverein, noch wurde ich nicht so richtig HSV-Fan. Vielmehr war ich Fußball-Fan. Ich habe jeden Tag gespielt, wirklich immer und überall, der Fußball wurde meine totale Leidenschaft. Ich habe auch alles geschaut, ich habe alles aufgesogen, so dass ich mich gar nicht auf einen einzelnen Verein konzentrieren konnte. Das ergab sich erst im Laufe der Jahre, genauer: in meiner Teenagerzeit, mit 16 oder 17 Jahren. Da wurde aus der Fußball-Leidenschaft plötzlich eine HSV-Leidenschaft. Ausschlaggebend dafür waren mein Freundeskreis aus der Schule und meine engsten Mitspieler aus meiner Mannschaft beim Bramfelder SV. Gemeinsam begannen wir, nicht nur ins Volksparkstadion zu gehen, sondern auch auswärts zu fahren. Und zwar überall hin.

In dieser Zeit gab es für mich nichts Größeres als den HSV und als das Fan-Dasein in all seinen Facetten. Das sorgte dafür, dass ich in meiner Hochphase – die hatte ich rund ums Abi – wirklich dauerhaft mit dem HSV unterwegs war. Es waren die Jahre 2008 bis 2012, also auch Zeiten, in denen wir international vertreten waren. Bruno Labbadia war damals Trainer, dann Martin Jol – und die Auswärtsfahrten mit der Mannschaft hatten etliche Highlights parat: In der Bundesliga, in der wir wirklich alle Spiele besucht haben, egal wo; und vor allem aber natürlich in der Europa-League. Das waren für mich die krassesten Erfahrungen. Eindhoven war überragend, Lüttich auch, der Höhepunkt war aber das Spiel beim FC Fulham. Diese Zeiten sind für mich unvergesslich – in jeglicher Hinsicht.

In jeglicher Hinsicht bedeutet, dass es mir natürlich um den Erfolg der Mannschaft ging, aber eigentlich ging es um so viel mehr. Es ging um die Faszination, für den HSV und für Hamburg unterwegs zu sein, unsere Stadt zu repräsentieren und überall dabei zu sein. Bei Heimspielen oben in 22C, und auswärts sowieso, und zwar überall. Nach Berlin mit dem Auto, nach München mit dem Sonderzug und dann eben auch durch ganz Europa. Das war die Faszination, die mich und meine Kumpels angetrieben hat. Es war weniger der Spielerkult, es war mir nie wichtig, von der gesamten Mannschaft Autogramme auf meinem Trikot zu haben. Mir ging es darum, meinen Verein überall zu begleiten und zu zeigen: Wir sind der HSV! Dazu gehörten dann auch Sondermärsche wie in Bremen oder vor dem Stadtderby 2011, als wir in unseren 1887-Klamotten durch die ganze Stadt gezogen sind. Das waren schon prägende Momente, die ich auch voll ausgekostet habe. Erkennen würde mich von den damaligen Allesfahrern, mit denen wir überall auf Tour waren, aber heute wahrscheinlich keiner mehr, denn ich war damals eher unauffällig unterwegs – sozusagen einer von den Halbstarken, die zwar das Gemeinschaftsgefühl genießen und ausleben, sich dann aber doch raushalten, wenn es mal brenzlig wird.

Zum Ende dieser Zeit entwickelte sich parallel zum Supporten unserer Stadt und unseres Vereins etwas in mir. Ich begann, die HSV-Spiele etwas anders zu betrachten, aus einer anderen Perspektive. Natürlich war ich total frustriert, wenn wir verloren hatten, dann saß ich noch ewig auf den Stufen der Kurve und habe mit den anderen Leuten philosophiert, woran es gelegen hat. Dann war der Samstag definitiv gelaufen, da habe ich dann auch Geburtstagsfeiern oder geplante Partyabende abgesagt und bin einfach allein nach Hause gefahren. Aber gleichzeitig habe ich mich mit anderen Dingen auseinandergesetzt: Hätte der Trainer nicht anders wechseln müssen, war das System das richtige und warum konnten wir keine Durchschlagskraft entwickeln? Es ging in dieser Phase ein bisschen vom reinen Fan-Dasein hin zum analytischen Beobachter. Der Grund hierfür war, dass ich natürlich weiterhin selbst beim Bramfelder SV gespielt habe, mittlerweile im Herrenbereich, und parallel dazu meine Trainerausbildungen und -scheine gemacht und auch ein BSV-Jugendteam trainiert habe.

Im Sommer 2011 verstärkte sich dieser Faktor der andersartigen Begleitung der Spiele noch einmal, gleichzeitig aber wurde meine Bindung zum HSV noch stärker – jedoch anders. Denn das Reisen mit der Mannschaft nahm plötzlich ab und hörte dann auch gänzlich auf, da sich auf einmal unsere Leben veränderten. Der eine aus der Gruppe ging zum Studieren in eine andere Stadt, der andere hatte eine feste Freundin und ein anderer stand auf einmal voll im Job. Und ich? Ich wurde Jugendtrainer beim HSV! Damit drehte sich für mich alles, denn nun war ich mittendrin und anstatt auf der Tribüne zu stehen und zu motzen, schaute ich die Spiele anders an, suchte nach positiven Aspekten, auf denen man aufbauen konnte und versuchte, die Beweggründe des Trainers für seine Entscheidungen nachzuvollziehen.

Auch mein Auftreten veränderte sich. Natürlich hatte ich mich vorher ebenfalls als Vertreter und Botschafter Hamburgs und des HSV gesehen, aber jetzt war ich beispielsweise bei bundesweit oder sogar international top besetzten Turnieren der offizielle Vertreter des Hamburger SV, der im HSV-Trainingsanzug die gesamte Jugendmannschaft anführte. Wir waren der HSV, auf den man schaute, wir hatten Verantwortung. Das war schon etwas Großes, das ich noch einmal anders und intensiver gelebt habe als zuvor. Und so hat sich mein Dasein als HSVer in diesem Sommer 2011 sehr verändert.

Meine Zeit als Jugendtrainer meines Herzensvereins endete dann aber auch nach nur anderthalb Jahren schon wieder. Ende 2012 musste ich mich verändern, ich musste nach meinem Abi und meinem Freiwilligen Sozialen Jahr, das ich beim Hamburger Fußball-Verband absolviert hatte, beruflich etwas auf die Beine stellen. Ich wollte studieren – und so verschlug es mich nach Osnabrück. Diesen Weg habe ich damals bewusst gewählt, denn eine Stadt, in der der Fußball keine große Rolle spielt, wäre für mich nicht in Frage gekommen. Aber Osnabrück, das konnte ich mir vorstellen. In den Jahren zuvor hatten an der Bremer Brücke tolle Pokalspiele stattgefunden, unter anderem gegen den HSV, aber auch gegen Schalke 04 und Borussia Dortmund. Der VfL und das Stadion an der Bremer Brücke waren mir deshalb sehr bekannt. Und da mein Plan definitiv darin bestand, in der Stadt meiner Uni auch im Fußball Fuß zu fassen, fiel die Entscheidung pro Osnabrück. Eine gute Entscheidung, wie sich herausstellen sollte, denn so wurde mein Weggang aus Hamburg gleichzeitig der erste Schritt zur Rückkehr in meine Heimatstadt.

Die Verantwortlichen aus dem HSV-Nachwuchs hatten damals für mich beim VfL Osnabrück vorgefühlt, den Kontakt hergestellt und mich für eine Arbeit im Nachwuchs des VfL empfohlen. So entwickelte es sich auch, so dass ich parallel zum Studium dort arbeiten konnte und später als U17-Trainer von Daniel Thioune auserkoren wurde, gemeinsam mit ihm die erste Mannschaft zu übernehmen, die in großen Abstiegssorgen steckte. Doch wir schafften den Klassenerhalt in der 3. Liga, stiegen im nächsten Jahr sogar in die 2. Liga auf und feierten dort dann ebenfalls den Klassenerhalt. Dieses gemeinsame Projekt von Daniel und mir verlief also über alle Maßen positiv, dies war unsere Mannschaft, unser Baby, das wir großgezogen hatten. Das war schon absolut besonders für mich als Trainer, ein solches Projekt mitgestalten zu können.

Dann aber stand Daniel plötzlich vor mir und sagte: „Wir haben ein Angebot aus Hamburg.“ Und ich war happy, denn mit meiner langjährigen Freundin, die gerade aus Hamburg zu mir nach Osnabrück gezogen war, würde ich nun vielleicht in unsere Heimatstadt zurückgehen können. Bei allem Erfolg, den wir in Osnabrück gehabt hatten, spürte ich in diesem Moment eine riesengroße Freude. Klar, Trainer beim FC St. Pauli zu werden, damit musste ich mich natürlich aufgrund meiner sehr intensiven HSV-Vergangenheit irgendwie arrangieren, aber im Vordergrund stand: Wir können nach Hause, wir gehen nach Hamburg. Doch dann schaute Daniel mich an und sagte: „Ich spreche nicht von St. Pauli, ich spreche vom HSV.“ Und was in diesem Augenblick in mir passierte, das kann man mit Worten gar nicht beschreiben. Dort, wo ich als kleines Kind mit meinem Vater auf dem Rasen gestanden, meine Jugend auf den Tribünen verbracht und mit unglaublich viel Stolz als Jugendtrainer die Raute auf meinem Trainingsanzug getragen hatte, dort sollte ich fortan zum Trainerstab der Profis gehören? Ich war einfach nur glücklich und niemand wird begreifen können, was mir dieser Augenblick bedeutet hat.

Ich denke schon, dass ich selbstbewusst bin. Ich weiß, dass ich in der Entwicklung von Spielern gute Arbeit mache, dass ich Dinge vorantreiben und die Spieler besser machen kann. Ich trage das auch selbstbewusst nach außen und bin überzeugt von mir und dem, was ich tue. Aber in die Gespräche mit Jonas Boldt mischte sich zu all meiner Überzeugung auch eine gehörige Portion Demut. Denn in diesem Fall war es nicht einfach nur ein Bewerbungsgespräch, sondern es ging um den HSV, um meinen HSV. Seitdem versuche ich, die Aufgabe als Job zu sehen. Ohne Emotionen, sondern sachlich und nüchtern die Arbeit zu machen. Würde ich das nicht tun, würde ich während des Spiels permanent völlig wild aufspringen und gestikulieren, was in dem Moment aber niemandem hilft. Früher bin ich als 20-Jähriger am Tag des Rückspiels im UEFA-Cup-Halbfinale in die Kirche gegangen und habe eine Kerze für den Finaleinzug angezündet, jetzt aber muss ich sachlich bleiben und das Geschehen analysieren und die richtigen Schlüsse für die Halbzeitansprache ziehen. Das ist der Job, und dazu zählt eben auch, die Emotionen auszublenden, um den Überblick zu behalten und alles für den größtmöglichen Erfolg zu tun. Ich bin jetzt Trainer, nicht Fan. Und meine Identifikation mit dem HSV verlangt es von mir, dass ich mich zurücknehme. Manchmal wird mir von Außenstehenden meine Art als emotionslos oder antriebslos ausgelegt, was witzig ist, weil es eigentlich das exakte Gegenteil ist. Es braucht so viel inneren Antrieb, um in diesen Situationen die Ruhe zu bewahren.

Ich freue mich aber auch darauf, irgendwann einmal wieder alles ausleben zu können und so wie früher einfach als Fan den Fußball und den HSV zu leben. Morgens Abschlach! zu hören, mich dann in die Bahn zu setzen, meine Kumpels zu treffen und dann durch den Stellinger Tunnel ins Volksparkstadion zu marschieren und einfach nur das Spiel zu genießen und die Fußballromantik wieder zu erleben. Bis es irgendwann in hoffentlich erst sehr ferner Zukunft soweit ist, genieße ich die aktuelle Situation und meine Arbeit, die ich wirklich über alles liebe. Die Arbeit mit den Spielern, im Trainerteam und mit hervorragenden Bedingungen. Und das alles bei meinem Verein.

Bei mir zu Hause hängt an der Wand noch das Mannschaftsbild meiner U9, die ich 2012 trainiert habe. Es erinnert mich daran, wie alles begonnen hat als Trainer beim HSV. Für mich fühlt sich das alles nach einer sehr runden Geschichte an, die ich gern noch viele Jahre fortsetzen möchte. Dafür arbeite ich jeden Tag und bin mir sehr bewusst, dass es ein Privileg ist, für den Club arbeiten zu dürfen, dessen Fan man seit vielen, vielen Jahren ist und der einen sein Leben lang begleitet hat. So gehe ich jeden Tag an und freue mich auf die Arbeit mit der Mannschaft auf dem Platz und natürlich vor allem auf die Wochenenden in einem vollbesetzten Volksparkstadion, wenn der Kessel brodelt und ich dann da unten mittendrin bin – und keine Angst haben muss, dass durch die Lautsprecher eine Stimme ertönt, die mich vom Rasen verjagt.