„Tor, Tor, ein herrlicher Treffer, ein wunderbarer Treffer“ – die Worte sind so legendär wie der Moment selbst. Sie stammen aus dem Mund des gebürtigen und mittlerweile verstorbenen Hamburgers Kurt Emmerich (1930-2006), dem sonst so zurückhaltenden Radio-Reporter, der am 25. Mai 1983 für jenen goldenen Moment sein Mikrofon kurz zum Übersteuern brachte. Zu „herrlich“ und „wunderbar“ war der Augenblick, in dem Felix Magath vom linken Strafraumeck den Ball in den rechten Kreuzgiebel versenkte – 1:0 für den HSV im Finale des Europapokals der Landesmeister gegen Juventus Turin. Der Rest ist Geschichte …
David gegen Goliath in der Hitze von Athen
Und zwar die Geschichte der ganz vielen Geschichten. Es beginnt mit den besonderen Bedingungen, die den HSV Ende Mai 1983 in diesem Finalspiel in Athen/Griechenland erwarten. Am Spielort herrschen auch in den späten Nachmittagsstunden Temperaturen um die 30 Grad Celsius, was die Spieler vor besondere Herausforderungen stellt. Das muss auch HSV-Trainer Ernst Happel im Anschluss an das Abschlusstraining feststellen und erklärt: „Es ist abzusehen, dass diese Hitze für einige meiner Spieler zum Problem werden wird.“
Auch der Kontrahent stellt ein Problem dar: So trifft der HSV auf Juventus Turin – damals das Maß aller Dinge im europäischen Vereinsfußball. Die Mannschaft ist mit einer Vielzahl an Weltmeistern bestückt und hat zudem mit dem Franzosen Michel Platini den wohl besten Mittelfeldspielers Europas in ihren Reihen. Die „Alte Dame“ geht sportlich als haushoher Favorit ins Rennen und hat zusätzlich auch das Publikum im Rücken. Eine Maschine nach der nächsten mit dem grün-weiß-roten Anstrich der Alitalia Airlines fliegt auf griechischem Boden ein – am Ende sind es 163 Charterflugzeuge aus Italien und mehr als 30.000 Fans. Zum Vergleich: lediglich 24 Maschinen aus der Bundesrepublik landen in Athen, 8.000 bis 10.000 Fans des HSV finden sich später im mit 73.500 Zuschauer ausverkauften Olympiastadion ein. Dort wird auch beim Eintreffen der Mannschaften klar, dass an diesem Abend zwei Welten aufeinandertreffen: Hier die in Turnschuhe und Trainingsanzüge gekleideten Außenseiter aus Hamburg, dort die in Lederschuhe und Designeranzüge gehüllten Favoriten aus Turin. Und falls es noch eines letzten Beweises bedarf, wie unterschiedlich die Dimensionen der beiden Clubs im Finale von 1983 sind, dann reicht ein Blick auf das Preisgeld, das beide Clubs ausgeschrieben haben: Den Italienern winkt pro Spieler eine Siegprämie von umgerechnet 135.000 Mark, den Hamburgern von „nur“ 25.000 Mark. Trainerfuchs Ernst Happel kommt die krasse Underdog-Rolle seines Teams derweil nicht unpassend. Im Gegenteil: Er schöpft daraus Mut und Zuversicht. „Es kommt mir wirklich sehr gelegen, dass wir hier nicht der Favorit sind“, erklärt der gebürtige Wiener, der vor allem entscheiden muss, wer den gesperrten „Jimmy“ Hartwig, der das Finale schließlich im ZDF-Studio an der Seite von Moderator Harry Valérien verfolgt und mehr als 18 Millionen Zuschauern an den Bildschirmen präsentiert, ersetzen soll. Lars Bastrup, Allan Hansen und Thomas von Heesen kommen dafür infrage. „Wenn ich Angst hätte, dann wäre ich zu Hause und nicht hier“, bekräftigt der Österreicher, der seine entscheidende taktische Besprechung am Finaltag im Zuge eines Waldspaziergangs auf einem Golfplatz abhält. Die einen sprechen bei diesem Schachzug von Aberglauben, hatte Happel doch schon vor dem Erstrunden-Hinspiel bei Dynamo Ost-Berlin (1:1) mit Stöckchen im Wald die Taktik skizziert; die anderen von Größenwahn, konnte man sich im Teamhotel „Interconti Athenaeum“ doch nicht sicher sein, ob nicht die eine oder andere italienische Wanze gelegt worden sei. Am Ende lochen die jungen Spieler ein, während Happel mit den älteren Akteuren die Taktik bespricht. Und diese hat’s in sich: Die Wahl für den freien Platz in der Startelf fällt auf Bastrup, der zugleich Bestandteil eines ausgeklügelten Plans wird. Der Linksaußen soll rechts spielen und dadurch offensiv wie defensiv für Irritationen beim Gegner sorgen. Zudem wird Wolfgang Rolff auserkoren, Juve-Star Platini als Bewacher kaltzustellen. Ausgerechnet jener Rolff, den der HSV erst zu Beginn der Saison vom Zweitligisten Fortuna Köln verpflichtet hatte.
Die Taktik als Schlüssel, Juventus entnervt
Als die Rothosen am Abend zur Platzbegehung ins Olympiastadion einlaufen, da glauben die Happel-Mannen fest an die Sensation. „Seine Ruhe hat auf uns ausgestrahlt. Wir wussten, dass Happel jedem Trainer taktisch überlegen war“, erinnert sich Kreativspieler Magath zurück. Der Glaube versetzt bekanntlich Berge, und in dieses Mantra stimmt Keeper Uli Stein in seiner ebenso direkten wie selbstbewussten Art ein und prophezeit hellseherisch: „Männer, ihr könnt euch auf mich verlassen. Ich kriege keinen rein, ihr müsst nur ein Tor schießen.“ Coach Happel endet in seiner Kabinenansprache wiederum kurz und knapp mit den Worten: „Die Italiener haben das Spiel schon abgehakt. Die sind sich zu sicher.“ Und so kommt es: Magath trifft früh, Stein pariert mehrfach, Rolff stoppt den Weltstar, und Bastrup irritiert den Gegner. Er zieht seinen Verteidiger Gentile mit rüber auf die rechte Seite. Dadurch stehen sich die Turiner dort auf den Füßen, während der HSV seinerseits immer wieder über die linke Seite mit Wehmeyer, Groh, Milewski, Rolff und Torschütze Magath durchbricht. „Links ein Loch: Italiener fielen rein“, ließ die „BILD-Zeitung“ Coach Happel für seine „geniale Taktik“ hochjubeln. „Ein meisterhafter Trainer, der es verstanden hat, die überlegenden Italiener zu besiegen“, lobte sogar die „Gazzetta dello Sport“.
Während die Rothosen ebenso engagiert wie abgeklärt spielen, brennen bei den Italienern die Sicherungen durch. Gentile verpasst Bastrup einen bitterbösen Faustschlag, der abseits des Spielgeschehens vom Schiedsrichtergespann übersehen wird und damit folgenlos bleibt. Nicht aber für den Dänen, der mit einem doppelten Kieferbruch ausgewechselt werden muss. Thomas von Heesen ersetzt ihn ab der 56. Minute, in der auch Juve-Cheftrainer Giovanni Trapattoni seinen ersten und einzigen Wechsel in diesem epischen Finale vollzieht: Domenico Marocchino für WM-Torschützenkönig Paolo Rossi. Doch die passende Antwort findet die italienische Trainerlegende damit nicht. Im Gegenteil: Er kann nur weiterhin zusehen, wie sein Star-Ensemble völlig entnervt den eigenen Ansprüchen hinterherhinkt und mehrfach am Fels in der Brandung mit dem Namen Uli Stein scheitert. „Unser Spiel steht und fällt mir der Leistung von Platini. Er wäre am liebsten nach 60 Minuten vom Platz gegangen“, versucht „Trap“ später das aus Sicht der Italiener Unerklärliche zu erklären.