Juves Startelf im Finale von 1983: Gaetano Scirea, Dino Zoff, Michel Platini, Roberto Bettega, Sergio Brio, Claudio Gentile (hinten v.l.), Massimo Bonini, Paolo Rossi, Zbigniew Boniek, Antonio Cabrini und Marco Tardelli (vorn v.l.).
Juventus Turin. Der Club aus Piemont ist im internationalen Fußball ein absoluter Mythos. 36 Scudetti, 14 Pokalsiege und neun Supercupsiege bedeuten jeweils einen Rekord auf italienischem Boden. Hinzu kommen zwei Siege im Europapokal der Landesmeister bzw. der UEFA-Champions League, drei Erfolge im UEFA-Pokal und ein Triumph im Europapokal der Pokalsieger. Die Erfolge des 1897 gegründeten Traditionsclubs sind ebenso reich wie seine Geschichten, die allerdings nicht nur mit Glanz und Gloria, sondern auch mit Skandalen und Intrigen versehen sind.
Im italienischen Fußball war Juventus Turin bereits in den 1930er-Jahren zu einer Großmacht aufgestiegen: Fünf Meisterschaften konnten die Weiß-Schwarzen (italienisch: „Bianconeri“) in diesem Jahrzehnt gewinnen. Dasselbe gelang ihnen dann auch in den 1970er-Jahren, wobei zwei der fünf Titel auf das Konto von Giovanni Trapattoni gingen, der zur Saison 1976/77 das Zepter an der Seitenlinie übernahm und bis 1986 eine überaus erfolgreiche Ära prägte. Bis heute hat die Trainerlegende damit die längste Amtszeit eines Coaches bei Juventus Turin inne.
Der einstige Abräumer, von 1957 bis 1970 als defensiver Mittelfeldspieler beim AC Mailand aktiv, wo er im Anschluss auch seine ersten Erfahrungen als Co- und Cheftrainer gesammelt hatte, ließ zu Beginn der 1980er-Jahre dann zwei weitere Meisterschaften mit den Turinern folgen und sah sich und seine Mannen in der Saison 1982/83 dazu bestimmt, auch den größten Vereinstitel im europäischen Fußball zu gewinnen – den Europapokal der Landesmeister.
Ein Team voller Superstars
Zu dieser Annahme hatte der damals 44-jährige Trapattoni auch allen Grund, war seine Mannschaft doch mit den besten Spielern Italiens bestückt: Allein sechs Spieler, die im Vorjahr in Spanien die Weltmeisterschaft für Italien gewonnen hatten, gehörten gegen den HSV zu seiner Anfangsformation; darunter Torwart-Legende Dino Zoff und WM-Torschützenkönig Paolo Rossi ebenso wie die Verteidiger Antonio Cabrini, Marco Tardelli, Gaetano Scirea und Claudio Gentile.
Während Zoff die Mannschaft als lebende Legende im Alter von 41 Jahren als Kapitän, Führungsspieler und sicherer Rückhalt in Personalunion anführte, war der 26-jährige Rossi – zuvor aufgrund eines Wettskandals im Jahr 1979 für drei Jahre gesperrt und als Spielmanipulator gebrandmarkt – als WM-Held und „Europas Fußballer des Jahres“ in Italien rehabilitiert. Gaetano „Gai“ Scirea, der am Finaltag seinen 30. Geburtstag feierte, hatte sich wiederum einen Namen als einer der besten Liberos der Fußballgeschichte gemacht und wusste gemeinsam mit den Weltmeister-Kollegen Cabrini, Tardelli und Gentile sowie dem spielintelligenten Sergio Brio einen stabilen Abwehrverbund zu bilden.
Doch die „Alte Dame“ war damals nicht nur „Bella Italia“, sondern hatte zu diesem Zeitpunkt mit dem Franzosen Michel Platini (28) und dem Polen Zbigniew Boniek (27) auch zwei herausragende internationale Mittelfeldspieler in ihren Reihen. Jahrhundert-Fußballer Platini war mittendrin, sich zum besten Spieler des Kontinents zu entwickeln, dem Mitte der 1980er-Jahre weltweit wohl nur Diego Maradona das Wasser reichen konnte. 1983, 1984 und 1985 heimste er die Auszeichnung als „Europas Fußballer des Jahres“ ein und krönte sich jeweils zum Torschützenkönig der Serie A. Ins Finale gegen den HSV ging der Franzose mit 16 Saisontreffern. An seiner Seite im zentralen Mittelfeld bildete Boniek als offensive Allzweckwaffe die perfekte Ergänzung. Der Schnauzbartträger war ebenso Freigeist wie Rebell, der sich nie so ganz auf eine Position festlegen wollte, sich mal ins Mittelfeld fallen ließ und mal in die Spitze vorpreschte. Komplettiert wurde die Startelf von den Offensivspielern Roberto Bettega und Massimo Bonini. Der 32-jährige Bettega, heute Juves Vizepräsident, war als gebürtiger Turiner schon damals ein Urgestein des Clubs, der bis dato sieben Meisterschaften mit der „Alten Dame“ errungen hatte und auf fast 500 Pflichtspiele zurückschaute. Seinem Spitznamen „penna bianca“ (die weiße Feder), den er aufgrund seiner früh ergrauten Haare trug, machte er ob dieser Erfahrung also alle Ehre. Der 23-jährige Bonini aus San Marino absolvierte wiederum erst seine zweite Saison im schwarz-weiß-gestreiften Trikot und war damit das Küken im Team der Italiener.
Souverän ins Finale
Mit dem oben genannten Star-Ensemble war Juventus Turin von Mitte September 1982 bis Ende April 1983 äußerst souverän durch den Wettbewerb marschiert und eliminierte seine Konkurrenz nach Hin- und Rückspiel jeweils mit mindestens zwei Toren Unterschied. Zum Auftakt setzten sich die Italiener in der 1. Runde mit 7:4 gegen den dänischen Vertreter Hvidovre IF (4:1 im Hinspiel, 3:3 im Rückspiel) durch. In der 2. Runde gab es dann einen 3:1-Erfolg gegen Standard Lüttich (1:1, 2:0), ehe ein 5:2 im Viertelfinale gegen Titelverteidiger Aston Villa (2:1, 3:1) und ein 4:2 über Widzew Lodz (2:0, 2:2) den Weg ins Finale des Europapokals der Landesmeister 1982/83 ebneten. Mit Rossi (6 Tore) und Platini (5) hatte Juve auch die besten Torschützen des Wettbewerbs in seinen Reihen.
Juventus Turin war also ohne Niederlage und mit breiter Brust nach Athen gereist und galt im Endspiel gegen den HSV als haushoher Favorit. Von den 73.500 Zuschauern im Olympiastadion konnten die Italiener zudem mehr als die Hälfte auf ihrer Seite wissen, der HSV wiederum „nur“ auf die Unterstützung von 8.000 bis 10.000 Fans zählen. Doch warum setzte sich das Superteam um die sechs Weltmeister und den Jahrhundert-Fußballer angesichts der großen individuellen Klasse und des offensichtlichen Heimvorteils nicht durch? Konnte die „Alte Dame“ mit der Favoritenrolle nicht umgehen? Spielte die zehn Tage zuvor verfehlte Meisterschaft in der Serie A – nach Niederlagen im Schlussspurt gegen die Rivalen FC Turin und Inter Mailand lief Juve hinter der AS Rom auf Platz 2 ein – eine Rolle? Fehlte es auf Vereinsebene in solch einem Finale tatsächlich an Erfahrung? Oder aber wuchs der Hamburger SV an diesem Abend von Athen einfach über sich hinaus und verstand es, die Bianconeri mit einer ausgeklügelten Taktik zu besiegen? Die Wahrheit liegt mit Sicherheit inmitten all dieser Fragen, auf die es im Fußball bekanntlich nicht die eine einfache Antwort gibt.
Bittere Niederlage(n)
Fest steht: Juventus Turin musste sich in Athen wider aller Erwartungen mit 0:1 geschlagen geben. Einen Monat später bildete der Gewinn der Coppa Italia gegen Hellas Verona (0:2, 3:0 n.V.) nach einer Aufholjagd zumindest eine Art Trostpflaster für die Saison 1982/83. In der Folgesaison gewann Juve dann die Meisterschaft und den Europapokal der Pokalsieger. Auf den größtmöglichen Triumph im Vereinsfußball musste der Club jedoch ein weiteres Jahr warten. Dieser erfolgte erst am 29. Mai 1985, als die Weiß-Schwarzen dank eines verwandelten Elfmeters durch Michel Platini im Finale des Europapokals der Landesmeister 1984/85 den FC Liverpool mit 1:0 besiegten. Ein Sieg, der aufgrund einer Massenpanik mit 39 Toten im Brüsseler Heysel-Stadion, die sich vor dem Spiel ereignet hatte, jedoch heftig überschattet wurde. Neben Platini kamen mit Rossi, Boniek, Brio, Scirea und Cabrina insgesamt sechs Spieler zum Einsatz, die auch gegen den HSV in der Startelf standen. Und an der Seite coachte noch immer Giovanni Trapattoni. Es war in diesem Wettbewerb zugleich der erste Sieg im dritten Anlauf, nachdem Juventus vor dem Duell mit dem HSV auch im Finale 1972/73 an Ajax Amsterdam (0:1) gescheitert war.
Jene erste Finalniederlage machten die Italiener mehr als 20 Jahre später in der Saison 1995/96 mit einem 5:3-Sieg im Elfmeterschießen zum Gewinn des Nachfolge-Wettbewerbs, der Champions League, wieder wett. Zugleich ist es allerdings auch bis heute der letzte Gewinn des Henkelpotts für den stolzen Club. Im Anschluss stand Juventus Turin noch fünf (!) weitere Male im Endspiel der Königsklasse, verließ gegen Borussia Dortmund (1996/97), Real Madrid (1997/98 und 2016/17), den AC Mailand (2002/03) und den FC Barcelona (2014/15) aber immer als Verlierer den Platz. Juventus Turin – seit jeher ein Mythos, der auch in den Geschichtsbüchern des HSV einen besonderen Platz einnimmt.
Die drei Superstars der Alten Dame
Dino Zoff
war zum Zeitpunkt des Finales im Alter von 41 Jahren der Inbegriff einer lebenden Legende. In mehr als zwei Jahrzehnten Profifußball hatte er alles gesehen und erlebt, was der Sport zu bieten hat. Er war Welt- und Europameister und sechsmaliger italienischer Meister. Das Finale war eines seiner letzten von insgesamt 473 Pflichtspielen für Juventus Turin und zugleich ein tragisches: Statt wie bereits im Sommer zuvor bei der Nationalmannschaft (nach 112 Länderspielen und vier WM-Teilnahmen) seine Karriere auch auf Vereinsebene mit dem größtmöglichen Titel zu krönen, konnte er beim 0:1 durch Felix Magath dem Ball beim Einschlagen im Kreuzeck seines Tores auf dem Boden kniend nur machtlos hinterherblicken. Wochen nach der Finalniederlage sah sich Zoff aufgrund seines Alters dann dazu gezwungen, seine aktive Laufbahn zu beenden. Später kehrte er als Trainer sowohl zu Juventus Turin (1988-1990) als auch zur Nationalmannschaft (1998-2000) noch einmal zurück und war zudem mehrfach als Coach von Lazio Rom (1990-94, 1996-97 und 2001) tätig. Im Jahr 2004 wurde „Dino Nazionale“ unter anderem als noch heute ältester Weltmeister der Geschichte auf die Liste der besten 125 noch lebenden Fußballspieler befördert.
Paolo Rossi
zählt zu den bedeutendsten Persönlichkeiten der italienischen Fußballgeschichte. Im Dezember 1979 war der Mittelstürmer im Alter von 23 Jahren in eine Affäre um ein verschobenes Ligaspiel verwickelt und vom italienischen Verband für drei Jahre gesperrt worden. Die Sperre wurde schließlich auf zwei Jahre reduziert, so dass Rossi ab April 1982 wieder spielberechtigt war. Der damalige Nationaltrainer Enzo Bearzot berief den Skandal-Kicker überraschend in den Kader für die bevorstehende WM in Spanien. Eine unpopuläre Entscheidung, doch Rossi schoss die Squadra Azzurra mit sechs Toren zum Titel und avancierte schlagartig zur Legende. „Ich werde nie aufhören, Bearzot zu danken, der Einzige, der immer an mich geglaubt hat“, sagte Rossi einmal rückblickend der „Gazzetta dello Sport“. Bei Juventus Turin setzte der schmächtige Angreifer, der seine Tore mit gutem Riecher oft ergaunerte und seit jeher mehr seinen Landes- als seinen Vereinsfarben verbunden war, seinen Höhenflug mit reichlich Erfolgen fort, wenngleich er schon 1987 im Alter von 30 Jahren aufgrund anhaltender Knieprobleme seine Karriere beenden musste. Im Finale gegen den HSV blieb die Nummer 9 der Bianconeri übrigens wirkungslos. Nach 56 Minuten war Feierabend für den Torjäger – der einzige Wechsel bei Juventus Turin. Nach seiner aktiven Laufbahn arbeitete Paolo Rossi unter anderem als Manager bei der SSC Neapel und betrieb lange Zeit eine Fußballschule in der Nähe von Perugia. Im Dezember 2020 starb er im Alter von 64 Jahren an einer Krebserkrankung. „Addio Pablito“ schrieben die italienischen Gazetten – „Lebe wohl, Pablito“.
Michel Platini
galt in den 80er-Jahren als einer der besten Fußballer des Kontinents. 1983, 1984 und 1985 wurde er als „Europas Fußballer des Jahres“ ausgezeichnet. Der Franzose, dessen Eltern Nachkommen italienischer Einwanderer waren, bestach dabei als Virtuose am Ball: Ob unnachahmliche Dribblings, brillante Steckpässe oder unwiderstehliche Freistöße, die zu seinem Markenzeichen wurden – Platini besaß magische Füße und war in der Saison 1982/83 als Neuzugang der Star bei Juventus Turin. Als amtierender Torschützenkönig der Serie A wurde der Zehner im Finale von Bewacher Wolfgang Rolff allerdings derart kaltgestellt, dass er entnervt aufgeben wollte. „Ich wäre am liebsten nach einer Stunde rausgegangen“, sagte er später. Seine beste Spielzeit sollte nach der Finalniederlage folgen: So gewann der Lockenkopf mit Juventus Turin die Meisterschaft und den Europapokal der Pokalsieger. Zudem avancierte er bei der EM 1984 im eigenen Land zur nationalen Legende, indem er Frankreich mit neun Treffern fast im Alleingang zum EM-Titel schoss – bis heute ein Rekord. Ein Jahr später entschied er per Elfmeter das Finale um den Europapokal der Landesmeister, geriet allerdings vor dem Hintergrund der Heysel-Katastrophe aufgrund seines überschwänglichen Jubels in die Kritik. So grandios „Le Roi“ (Der König) als Fußballer agierte, so umstritten war und ist sein Wirken nach seiner aktiven Laufbahn. Nachdem er zuvor als Nationaltrainer Frankreichs aktiv gewesen war, schlug Platini eine Funktionärskarriere ein, die ihn 2007 nach einer umstrittenen Kampfabstimmung zum Präsidenten der UEFA führte. Als solcher war er bis 2015 im Amt, ehe er nach einer Korruptionsaffäre von der FIFA seiner Aufgaben entbunden und für acht Jahre für sämtliche Tätigkeiten im Fußball gesperrt wurde.