Wie würde wohl ein heutiger Talent-Scout den Mittelstürmer Uwe Seeler beschreiben? Welche „Skills“ würde er in seinem „Report“ aufführen, welche Daten und Statistiken besonders hervorheben? Fest steht: Für eine auch nur ansatzweise angemessene und vollständige Analyse und Charakteristik reichte ein Standard-Formblatt sicher nicht aus.
Vieles wurde in den vergangenen Monaten zum bewegenden Abschied von der HSV-Ikone wieder hervorgekramt, die beeindruckenden Zahlen seiner einzigartigen Karriere – rund 1300 Spiele mit 1400 Toren für den HSV und den DFB – zum Teil mit Leben gefüllt und veranschaulicht. Filmschnipsel und Fotos. Meist in Schwarz-Weiß, zum Ende hin auch in Technicolor. Archiv-Klassiker: Der Sitzrückzieher gegen Herne 1960, der Europacup-Triumph gegen Burnley 1961, der Pokal-Hattrick gegen Dortmund 1963, das Comeback-Tor im Spagatschritt gegen Schweden 1965, der Hinterkopfball 1970 in Mexiko gegen England. Immer wieder gern gesehen, verlässliche Gänsehaut-Auslöser. Irgendwie seltsam: Man meint, den Protagonisten dieser Szenen gut zu kennen, auch wenn man ihn – was sicher auf den Großteil seiner aktuellen Nachrufer und ewigen Bewunderer zutrifft – nie live auf dem Rasen erlebt hat.
Doch genau das braucht es eigentlich, um ein vollständiges Bild zu zeichnen. Was machte den Stürmer Uwe Seeler aus? Eine kurze Antwort auf diese Frage ist nicht möglich. Die Kollegen vom Fachmagazin „kicker“ machten Anfang der 1990er-Jahre gleichwohl einen sehr gelungenen Versuch. Fast 100 Worte, aber doch auf den Punkt:
„Wenn er wie ein menschlicher Pfeil in Flanken flog, aus der Drehung volley ins Lattenkreuz hämmerte; wenn er geschubst, gestoßen und getreten, dennoch die Lederkugel im gegnerischen Gehäuse unterbrachte – ganz egal wie. Zu seinen legendären Fallrückziehern ansetzte und den Ball dabei dem Torhüter unter die Querlatte donnerte, 0:2 zurücklag, doch niemals aufsteckte und die Ärmel seines schmutzstarrenden Trikots noch weiter nach oben krempelte und die Karre noch aus dem Dreck holte mit einem seiner zahlreichen Hattricks – dann, ja dann ging es wie ein einziger Schrei durch das Stadion: ,Uwe! Uwe! Uwe!‘ “
Wir dürfen uns hier zum Glück noch ein paar Zeilen mehr gönnen, um dem Mittelstürmer-Phänomen Uwe Seeler und der Faszination, die sein Spiel auslöste, beizukommen. Dröseln wir also auf:
Fulminanz und Intensität
Seelers Spielweise hatte eine mitreißende Dynamik. Angezogene Handbremse? Halbgas? Gab es nicht. Die Begriffe, mit denen seine Spielweise charakterisiert wurde, hätten der Kriegsberichterstattung entnommen sein können. In zeitgenössischen Artikeln – egal ob nun in Boulevard- oder sogenannten Qualitätszeitungen – finden sich Metaphern wie „Tank“ und „Brecher“, Seelers Torschüsse waren „Granaten“, seine Kopfbälle „Torpedos“. BILD beispielsweise schrieb 1954 anlässlich seines Länderspiel-Debüts: „Die kleine, bullige Sturmbombe zischte immer wieder explosionsgefährlich in die Abwehrreihen der Franzosen.“ Und die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ attestierte ihm „die gesammelte Energie einer Kanonenkugel“.
Von Nah und Fern
Wuchtbrumme und Draufgänger Seeler kugelblitzte allerdings nicht nur im Strafraum herum. Er war als Mittelstürmer zwar der klassische Zielspieler, jedoch keiner, der lauffaul nur am Elfmeterpunkt oder kurzen Pfosten herumlungerte und darauf wartete, dass man ihm die Chancen passgenau servierte. Er suchte zwar stets den direkten Weg zum Tor. Doch der konnte durchaus lang sein. Uwe Seeler holte sich seine Bälle gerne auch mal selbst ab, notfalls tief in der eigenen Hälfte. Sein Aktionsradius war enorm und Schüsse von weit jenseits der Strafraumgrenze keine Seltenheit.
Dreimal hoch: Ärmel, Kopf, Bein. Antreiber, Brecher, Artist – Mittelstürmer Seeler, ein Hoch-Genuss!
Vielfalt und Schönheit
Bei allem „Krach“, „Bumm“ und „Zack“ – Seeler beherrschte auch das Filigrane. Rechts wie links. Früchte der Ausbildung eines echten „Straßenfußballers“. Was auf dem holperigen Kopfsteinpflaster und den Trümmergrundstücken im Nachkriegs-Eppendorf gelang, klappte auf dem feinen Rasen-Teppich von Wembley erst recht. Der elegante Heber, der sanfte Streichler mit dem Außenrist, die listige Pike, der verdeckte Drehschuss mit dem Rücken zum Tor, vor allem aber: Direktabnahmen zum Einrahmen. Spektakuläre Kunst, vollendetes Timing – geübt und automatisiert in zahllosen Extraschichten am Ballpendel, präsentiert im Stadion in Lehrbuch-Qualität. „Seine Ballbehandlung war perfekt, sein Schuss genau, und was ich besonders bewundert habe, war sein Kopfballspiel“, adelte einst kein geringerer als Pelé. Der Brasilianer weiter: „Uwe hatte allen anderen Spielern eines voraus: seine Rückzieher, sein Schuss im Fallen, das Treffen des Balles, während er selbst mit den Füßen in Kopfhöhe war. Das habe ich bei keinem anderen Spieler gesehen.“
Robustheit und Resilienz
Ohne Beispiel auch Uwe Seelers Wille, das Rackern bis zur völligen Erschöpfung. Ein Stürmer, der unbeirrt dahin ging, wo es „wehtat“. Im Wortsinn: Von seinen – oftmals im Duo als „Doppelstopper“ aufgebotenen – Gegenspielern gab es tüchtig was auf die Socken. Nicht immer ohne Folgen: Seelers Krankenakte liest sich wie eine Enzyklopädie der Sporttraumatologie. Mehr als 60 Verletzungen sind dokumentiert. Doch er kam immer wieder zurück. Ein echtes Stehaufmännchen. Selbst dann, als es unmöglich erschien.
Einsatz und Einstellung
Aufgeben? Keine Option! Nach diesem Begriff blättert man im Seeler’schen Wörterbuch vergeblich. Er ist nicht gelistet. Ärmel hochkrempeln und weiter! Einsatz wird belohnt! Wenig verwunderlich, dass es unglaubliche HSV-Comebacks à la Heidenheim natürlich regelmäßig auch schon von und mit Uwe Seeler gab: 1957 in der Oberliga Nord gegen Braunschweig (von 0:4 zur Pause zum 6:4; 3 Seeler-Tore), 1961 gegen die A-Nationalmannschaft (von 0:3 zur Pause auf 4:3; ebenfalls 3 Tore) oder 1964 in der Bundesliga gegen Meiderich (von 0:3 nach 75 Minuten zum 3:3; 1 Vorlage).
Seeler vermochte wie kein Zweiter, Publikum und immer wieder auch seine Kameraden mitzureißen. Er trieb – keineswegs nur freundliche Worte benutzend – permanent an. „Schweiß auf der Stirn, Dreck am Hemd und Blut am Bein – das waren, ein wenig pathetisch verkürzt, die Insignien des Fußball-Idols“, beschrieb ihn sein langjähriger Mitspieler Gerd Krug.
Flexibilität und Teamgeist
Schließlich – und das ist vielleicht am bemerkenswertesten: Das „Immer weiter“ bezog Seeler vor allem auch auf seine persönliche Entwicklung. Selbst als etablierter Bundesliga- und Nationalspieler blieb er ein Lernender. Schon 1959, also nach nicht mal einem Drittel von Seelers Laufbahn als Herrenspieler, machte das Handbuch „Der allwissende Fußball“ seinem Namen alle Ehre und prophezeite, dass Seeler auf dem besten Wege sei, sich „vom Nur-Torjäger und Reißer zu einem technisch gereiften Spieler mit echten Sturmführereigenschaften“ zu wandeln.
Genauso kam es. Für alle sichtbar auf der größtmöglichen Fußball-Bühne. Bei der Weltmeisterschaft 1966 in England glänzte Kapitän Seeler als vorbildlicher „Sportsman“, ja sogar als herausragender Botschafter seines Landes. „Gewinnen wollen. Verlieren können“. 1970 in Mexiko dann, bei seinem vierten und wie er selbst betonte „schönsten“ Turnier, gefiel er als Allrounder, kongenialer Partner und uneigennütziger Assistent des neuen „Bombers“ und Schützenkönigs Gerd Müller. Ein Schritt vom Zentrum in die zweite Reihe. Ein letzter Schritt zur Legende.
„Uns Neuner“: Unnachahmlich. Unerreicht. Unvergessen.