DIE HEIMAT
Die Rothenbaumchaussee 115 in den 1920er Jahren: „Sammelpunkt aller H.S.V.er, Pflegestätte wahrer Freundschaft und Sporttreue, würdiges Fundament des ältesten norddeutschen Sportvereins.“
In der 1962 erschienenen Festschrift zum 75-jährigen Bestehen des HSV ist das Datum inmitten der Aufzählung der vielen sportlichen Großereignisse nur eine vierzeilige Randnotiz. Gleichwohl eine, die, wie Chronist Jupp Wolff vermerkte, auf ein „bedeutendes Ereignis im Vereinsleben des HSV“ hinweist: Am 1. Juli 1921 nämlich erwarb der Club an der Ecke Rothenbaumchaussee/Hallerstraße eine Jugendstil-Villa auf einem mehr als 4.000 Quadratmeter großen Grundstück mit Garten und herrlichem alten Baumbestand. So sollte, zwei Jahre nach der Fusion zum neuen Großclub HSV, endlich das leidige „Problem Platz-Clubhaus“ gelöst werden. Die Geschäftsstelle war zuvor am Großen Burstah 30 ansässig, dem heutigen Sitz des „Hamburger Abendblatts“; die Sportausschüsse tagten im Restaurant Jalant im Domhof an der Mönckebergstraße/Ecke Bergstraße – schön dicht am Rathaus zwar, aber mit etwa drei Kilometern Wegstrecke auch ziemlich weit entfernt vom eigentlichen Mittelpunkt der Vereinsaktivitäten: den Sportanlagen am Rothenbaum.
»Stolz auf unseren herrlichen Besitz«
Im Sommer 1921 wurde die ersehnte „straffe Zusammenfassung des ganzen Vereins“ an einem einzigen Ort endlich Realität. Die HSV-Geschäftsstelle nahm unter ihrer neuen Adresse „Rothenbaumchaussee 115“ sofort ihren Betrieb auf. Parallel dazu wurde das Anwesen mit großem Engagement der Mitglieder binnen dreieinhalb Monaten in ein schmuckes Clubheim umgestaltet. Mit seinem markanten Turm inklusive stilisierter Zinnen und Fenstern im gotischen Stil, auf dem an Spieltagen die blau-weiß-schwarze-Flagge mit der Raute gehisst wurde, sowie den langgestreckten, vorgebauten Glasveranden war die neue HSV-Heimat ein architektonischer Hingucker. Ihr nobler Standort und ihr repräsentatives Erscheinungsbild entsprachen dem Selbstverständnis des aufstrebenden HSV, dessen Mitgliederzahl rasant wuchs. Kein anderer Hamburger Verein konnte Vergleichbares vorweisen. Am 15. November 1921 öffnete die „Burg“, wie das Gebäude fortan liebevoll genannt wurde, ihre Tore für alle Mitglieder. Vereinzelt geäußerte Sorgen um das durchaus beträchtliche finanzielle Risiko, das man mit dem Kauf eingegangen war, wichen rasch allgemeiner Begeisterung. Schnell wurde jedem HSVer klar, dass dem „Hausausschuss“, bestehend aus den Herren Henry Barrelet (Präsident), Emil Martens, Gotthilf Stöwahse und Willi Turner, mit der Immobilie ein echter Coup gelungen war. In den Vereinsnachrichten vom März 1922 steht geschrieben: „Wir wollen nicht protzen und nicht übermütig werden, aber stolz wollen wir sein auf unseren herrlichen Besitz. Mögen alle Mitglieder dafür sorgen, dass unser Haus das bleibe, was es ist: ein Sammelpunkt aller H.S.V.er, eine Pflegestätte wahrer Freundschaft und Sporttreue, ein würdiges Fundament des ältesten norddeutschen Sportvereins.“
Im Innern der Burg: Sitzungszimmer (o.) und großer Festsaal (u.).
Im Innern der Burg: Sitzungszimmer (l.) und großer Festsaal (r.).
Auflaufen über die Rothenbaumchaussee
Im neuen HSV-Domizil waren neben der Geschäftsstelle ein Konferenzzimmer, die Vereinsbibliothek, eine alsbald für ihre ausgezeichnete Küche bekannte und geschätzte Gastwirtschaft sowie ein repräsentativer Saal (ab Frühjahr 1924 mit Radio!) untergebracht. Legendär: der lange, viereckige „Löwentisch“, der seinen Namen der darauf platzierten riesigen Raubtierskulptur aus Bronze (oder war es Porzellan?) verdankte. An ihm nahmen die Vereinsoberen, Honoratioren sowie prominente Mitglieder und verdiente Spieler Platz.
Weiterer Clou: Im Keller der Nr. 115 befanden sich bis Ende der 1950er Jahre neben den Speisekammern und Lagerräumen auch die Umkleide-, Dusch- und Waschräume für die Mannschaften. Fußball am Rothenbaum besaß dank dieser räumlichen Gegebenheiten „Elemente einer antiken Aufführung“, wie der Autor und HSV-Kenner Werner Skrentny in seinem Buch „Orte der Leidenschaften – Der HSV und seine Stadien“ treffend beschrieb: „Die Spieler zogen sich in der Vereinsvilla um, überquerten dann durch das Spalier der Anhänger die Rothenbaumchaussee, während ein damals noch in Hamburg ,Udel‘ genannter Polizist die Straßenbahnlinie 18 und die Kraftfahrzeuge aufhielt. Zur Pause blieb man auf dem Rasen und suchte erst nach Spielschluss wieder die Kabinen auf.“
»Dritte Halbzeit« mit Verlängerung
Besonders rund um die Spiele der Liga-Mannschaft wurde die Burg regelrecht gestürmt und war vor und nach dem Anpfiff stets brechend voll. Es ging hoch her, wenn neben leckeren Salzheringen, der Spezialität des Hauses, auch reichlich scharfe Getränke und hochprozentige Magenwärmer kredenzt wurden. Der Fisch muss schließlich schwimmen! Durchaus exemplarisch die Beobachtung des Berichterstatters der „Hamburger Anzeigen und Nachrichten“, der im Dezember 1938, nach einem Freundschaftsspiel gegen Rothenburgsort bei klirrender Kälte, notierte: Die Zuschauer „(…) gingen halb erfroren vom Platz. Den Nutzen davon hatte nur der Klubwirt des HSV. Grog zur Seelenauffrischung ging weg wie warme Semmeln.“
Die „dritte Halbzeit“ am Rothenbaum ging oft in die Verlängerung bzw. „bis in die Puppen“. Schwer – wenn nicht völlig unmöglich – zu gehen, wenn ein gepflegter Skat gedroschen und oder heiter in die Tasten des unweit des Löwentisches platzierten Flügels gegriffen wurde. Besonders Kalle Schneider, Halblinker der Meisterelf von 1923, erwies sich dabei als virtuoser Entertainer, der sein Publikum buchstäblich auf den Tischen tanzen ließ. Das erlebten unter anderen eindrucksvoll die Starspieler vom Nürnberger Club im Sommer 1924. Nach dem „Privatspiel“ vor der Rekordkulisse von mehr als 30.000 Zuschauern wurde in der Burg bis in die Morgenstunden Verbrüderung gefeiert und das zwei Jahre zuvor beim schier endlosen und unentschiedenen Ringen um die Deutsche Meisterschaft noch erbittert geschwungene Kriegsbeil endgültig begraben.
Gute Seele(rs): „Burg-Ritter und Retter Otto Streuffert (u.), Hochzeitspaar Uwe und Ilka Seeler mit Paul Hauenschild (1959, o.).
Dauer-Bewohner und temporäre Untermieter
Als „Stammgäste“ in der Burg zu Hause sind von 1939 bis 1969 auch das Zeugwart-, Haus- und Platzmeisterpaar Ella und Otto Streuffert. Gute Seelen des Vereins und mehrfach Retter der Burg: Als bei den schweren alliierten Luftangriffen auf Hamburg während des Zweiten Weltkriegs zwischen 1942 und 1944 mehrfach auch Bomben auf das HSV-Grundstück fallen, sind sie mit anderen Helfern stets zur Stelle und löschen kleinere und größere Brände. Der grausame und nicht zu löschende Weltenbrand brachte dem Haus verschiedene Untermieter, darunter zahlreiche prominente HSV-Gastkicker, etwa den damaligen Rekord-Nationalspieler Paul Janes von Fortuna Düsseldorf (1942-44) oder den baumlangen Torwart Alexander Martinek von Wacker Wien (1943). Nach Kriegsende bezog schließlich Trainer Hans Tauchert mit seiner Familie den hinteren Teil der großen Veranda zur Hallerstraße hin.
Festung und Feste
Die Jahre der Oberliga Nord brachten alten Glanz zurück an den Rothenbaum. Der HSV war zwischen 1947 und 1963 in seinem „Wohnzimmer“ nahezu unschlagbar; die Burg wurde ihrem Namen gerecht und zur uneinnehmbaren „Bastion“ (von Dezember 1956 bis September 1959 in rekordverdächtigen 39 Punktspielen mit 36 Siegen und 3 Remis in Serie). Lediglich neun verschiedene Gastvereine schafften es in dieser Zeit in insgesamt 233 Anläufen zusammen mickrige 19-mal, beide Punkte vom Rothenbaum zu entführen.
Bastion: Wie hier am 2. Weihnachtstag 1960 beim Spiel HSV-Werder (4:1), gab es für die Oberliga-Gäste am Rothenbaum meist nix zu holen. Hinter dem fulminant abziehenden Charly Dörfel zu erkennen: das HSV-Haus in der Rothenbaumchaussee 115.
Auf einigen Fotografien aus diesen Tagen kann man im Hintergrund das Clubhaus mit seinem charakteristischen Türmchen erkennen. Doch ganz ohne Schrammen hatte das Gebäude den Krieg nicht überstanden. 1956 musste renoviert werden. Die Burg wurde dabei „geschleift“, ihre Zinnen und andere baufällige Teile abgetragen, ihr Charme damit leider auch. Der ramponierte Altbau erlebte dennoch weiter so manch strahlende Stunde: So im Februar 1959, als Uwe Seeler und seine Ilka hier ihre Hochzeit feierten oder Ende Juni 1960, als die aus Frankfurt zurückgekehrte Meistermannschaft auf dem Balkon der Burg (und nicht dem des Rathauses) die Meisterschale präsentierte – besonders eindrucksvoll durch Charly Dörfel, der die schwere „Salatschüssel“ sekundenlang auf seinem Kinn balancierte. Einige Monate später, im Frühjahr 1961, versammelten vor der Rothenbaumchaussee 115 erneut zahlreiche HSV-Fans, diesmal in langen Schlangen anstehend, um Tickets für die epischen Landesmeister-Cup-Duelle gegen Burnley und Barcelona zu ergattern. Und 1970 erschallte hier noch einmal ein kräftiges „Hipphipphurra“ für Vereinsikone Uwe Seeler, als dieser zum dritten Mal zum „Fußballer des Jahres“ gekürt wurde.
Die renovierte „HSV-Burg“ im Jahr 1962 (l.): Zinnen und Charme eingebüßt. Anfang 1973 kam die Abrissbirne (r.).
Abriss und Neubau
Ende Februar 1973 jedoch, ein gutes halbes Jahrhundert nachdem sie der HSV erworben hatte, waren die Tage der Burg gezählt. Bagger und Abrissbirne rückten an, um Platz für einen modernen Neubau zu schaffen: Ein achtstöckiges Hochhaus mit 54 Appartement-Wohnungen, die dem HSV Mieteinnahmen bringen sollten, dazu Platz für die Geschäftsstelle, Klubräume und ein Restaurant. Am 15. August 1973 legte HSV-Präsident Dr. Horst Barrelet, dessen Vater Henry als Vereinschef und Hausausschussmitglied 1921 maßgeblich an der Organisation der „HSV-Heimat“ beteiligt war, den Grundstein für dieses vier Millionen DM teure Bauprojekt und erklärte dabei: „Wir bauen es zwar mit Opfern, aber mit einem Blick in eine bessere Zukunft.“ Dazu der Wunsch: „Es soll ein Platz der Begegnung werden!“
„Wir stehen Schlange …“: Treffpunkt Rothenbaumchaussee 115, hier im März 1976 für Tickets zum Bundesliga-Schlagerspiel gegen den FC Bayern.
Die großen Hoffnungen auf eine „neue Ära am alten Standort“ erfüllten sich jedoch nur zum Teil. Nachdem man während der Bauphase anderthalb Jahre beim benachbarten und befreundeten „Club an der Alster“ untergekommen war, kehrte die HSV-Geschäftsstelle zwar Anfang August 1974 wieder zurück an ihre Traditionsadresse. Doch schon im April 1981 hieß es erneut: Kisten packen! Der nächste Büro-Umzug, wenn auch wieder nur „um die Ecke“, in die Hartungsstraße 16. Manager Günter Netzer & Co. richteten sich auf 300 Quadratmetern ein, verteilt auf zwei Etagen. Diesmal zur Miete zum Preis von 20 DM/m2. Wiederum viereinhalb Jahre später, kurz vor Weihnachten 1985, ging es zurück in die Chaussee – allerdings nicht an die alte Adresse, sondern zehn Hausnummern weiter nach Norden über die Hallerstraße rüber in ihren Harvestehuder Teil. Hier blieb der HSV für 13 Jahre, ehe man nach erfolgtem Umbau der Arena im Volkspark Ende 1998 endgültig den Rothenbaum verließ und in die Bahrenfelder Sylvesterallee wechselte.
Vom »HSV-Bierbrunnen« übers »Oswald« zum »Go«
Und die „RBC 115“? Auch wenn der HSV schon 1989 seine Anteile an der Immobilie veräußerte, blieb die „alte Heimat“ für seine Mitglieder und Anhänger tatsächlich noch lange ein Anlaufpunkt. Wechselnde Lokalitäten im Parterre luden zum Treffen und Verweilen ein. Den Anfang im Neubau machte im Sommer 1974 „Am Rothen Baum“, dann sprudelte mehr als ein Jahrzehnt lang der „HSV-Bierbrunnen“. Während sich Nachfolger „Robinson“ und die ihm angeschlossene „HSV-Bar“ (ab 3/1988) nur kurz hielten, blieb „Oswald“ (ab 11/1991) länger und im Gedächtnis. Besonders denkwürdig: Bei einer Runde Bier im „Oswald“ gründeten 36 engagierte HSV-Fans am 28. März 1993 den „HSV Supporters Club“, der mittlerweile mehr als 65.000 Mitglieder zählt. Etliche Jahre lang fanden in einem Hinterzimmer des Lokals die Pressekonferenzen vor den Bundesliga-Spielen statt, zu denen Schnittchen, Knackwurst und Buletten gereicht wurden. Vermutlich fabrizierte hier auch Präsident Ronnie Wulff, an die Journalisten gewandt, sein vielzitiertes Bonmot: „Greifen Sie ruhig zu! Seit die Bilanz gut ist, ist weniger Brot in den Frikadellen!“
Lokalrunde: Wechselnde Konzepte, Namen und Betreiber – aktuell wird am Rothenbaum Sushi gerollt, im „Go by Steffen Henssler“.
Statt Fleischklopsen gab es anschließend „kreativen Kabeljau“ im „Choo“ (ab 3/1999), dann kurzeitig wieder Deftiges wie Haxen, Rostbratwürstl und Sauerkraut beim „Nürnberger“, später mit Leidenschaft zubereitete Pasta und Pizza im „Ristorante Passione“ und chilliges Club-Feeling in der „Bar Celona“. Seit Ende 2018 betreibt TV-Koch Steffen Henssler das Restaurant „Go“ und offeriert akkurat angerichtetes Wolfsbarschtatar, Tempura-Garnele und Schaumsuppe mit Jakobsmuscheln. Profaner Salzhering ist out.