Stammkeeper DANIEL HEUER FERNANDES spricht im HSVlive-Interview über den großen Reiz der Torwartposition, deren besondere Interpretation im Spielsystem von Tim Walter und seine ganz eigenen Angewohnheiten zwischen den Torpfosten.

Wenn Daniel Heuer Fer­nandes seine Rolle als Tor­hüter ausführt, dann steht der 29-Jährige nicht nur buchstäblich zwischen den Pfosten der Rothosen, sondern ist perma­nent und überall in Bewegung. Fünf­meterraum und Sechs­zehner sind zwar die Hoheits­gebiete des Deutsch-Portu­giesen – hier glänzt er mit gutem Positions­spiel, rettet in letzter Instanz mit spektakulären Flug­ein­lagen oder kom­promiss­losen Eins-gegen-eins-Safes –,doch ebenso auffällig agiert der 1,88 Meter große Schluss­mann mit dem Ball am Fuß. Variable Flach­pässe, kurze Heber oder lange Flug­bälle – es gibt kein Zu­spiel, das sich der gebürtige Bochumer, der in der Jugend lange Zeit als offensiver Feld­spieler aktiv war, nicht zutraut. „Ferro“ ist damit ein zentraler Baustein im Spiel­system von Tim Walter und glänzt in diesem als kompletter Torhüter, der im Fachmagazin „kicker“ mit einer Durch­schnitts­note von 2,59 das Ranking aller Zweit­liga-Spieler anführt. Im HSVlive-Interview spricht der Schluss­mann über seine Inter­pretation der Torwart­position und den besonderen Reiz, den diese auf ihn ausübt. 

„Ferro“, eine alte Fuß­ball-Weis­heit lautet: „Links­außen und Tor­hüter haben eine Macke.“ Ist das nur ein Mythos oder steckt ein Stück Wahr­heit in dieser Aussage? 

Ein bisschen Wahr­heit steckt da schon drin: Wenn du dich von deinen Gegen­spielern im Spiel und deinen Mit­spielern im Training perma­nent mit Höchst­geschwindig­keit ab­schießen lässt, dann musst du schon ein bisschen verrückt sein. Genau das ist aber vielleicht auch das Besondere an der Torwart­position. Es ist nichts Alltäg­liches.

Was macht für dich im Detail den besonderen Reiz des Tor­wart­spiels aus? 

Mich reizt vor allem, dass die Position so vielfältig ist. Du musst sowohl fuß­ballerisch als auch in der Tor­ver­teidigung gut sein. Zudem kannst du als Torwart einer Mann­schaft immens helfen. Denn ein guter Rück­halt bringt viel Stabilität. Das reizt mich. Es ist das Geilste, Tore zu verhindern.

Du warst als Kind Offensiv­spieler und bist in der Jugend durch einen Zufall in die Kiste gekommen. Euer Tor­hüter war verletzt, du bist einge­sprungen. Kannst du dich noch an das erste Mal zwischen den Pfosten erinnern und inwieweit warst du sofort Feuer und Flamme für die Position? 

Ich weiß noch, dass es in der E- oder D-Jugend war, aber ich kann mich nicht mehr daran erinnern, wie es sich im Detail ange­fühlt hat. Bei mir war es auch ein sanfter Über­gang. Ich war nicht von heute auf morgen Torhüter, sondern habe zunächst beide Positionen gespielt. Mal stand ich eine Hälfte im Tor, mal die andere als Feld­spieler auf dem Platz. Irgend­wann habe ich dann als Jugend­licher gemerkt, was mir mehr liegt. Und das war das Torwart­spiel. Im Nach­hinein kann ich sagen, dass das die richtige Entscheidung war. Ich liebe es, im Tor zu stehen.   

Du hast einmal gesagt: „Irgendwann war es geiler, Tore zu verhindern. Mich hat dieses Gefühl gepackt – die Geilheit, wenn ein Stürmer auf dich zuläuft, du im Eins-gegen-eins gewinnst und an­schließend sagen kannst: Heute triffst du nicht!“ Inwie­weit muss man dieses Mind­set zwischen den Pfosten mitbringen?

Das ist unabdingbar. Es muss für dich das Geilste sein, Bälle zu halten und es den Gegen­spielern so schwierig wie möglich zu machen. Es sind pure Glücks­gefühle, die hoch­kommen, wenn man Bälle halten und der Mann­schaft helfen kann. 

Früher wurden Tore gefeiert und Paraden wohl­wollend be­klatscht. Heute steht auch nach einer geilen Rettungstat das ganze Stadion Kopf und die Mit­spieler feiern einen und man jubelt wie nach einem Tor. Hat bezüglich der Wertig­keit eines Safes eine Veränderung statt­gefunden?

Die Zeit, in der ein solcher Safe nicht gefeiert wurde, die kenne ich gar nicht mehr. Ich finde es auch selbst­ver­ständlich und logisch, dass eine Rettungs­tat von den Zuschauern wie ein Tor gefeiert wird. Denn wenn ein Tor­hüter einen ganz schwierigen Ball hält, dann ist das genauso wichtig wie das Tor eines Stürmers. Natürlich muss nicht jeder Safe gefeiert werden, denn schließ­lich ist ein Tor­wart dafür da, um Bälle zu halten. Dennoch gibt es viele spekta­kuläre Paraden, die besonders in den Schluss­phasen bei einem engen Spiel­stand entscheidend sein können.  

Wann ist für dich als Tor­hüter ein Spiel perfekt? Ist das Zu-Null-Spiel das Non­plusultra oder zählt am Ende der Sieg der Mann­schaft und bei einem 5:0-Sieg wie zuletzt in Darmstadt wäre es nicht so schlimm, wenn der Ehrentreffer gelingt? 

Oh doch, so ein Gegen­tor würde mich richtig ärgern. (lacht) Ein Zu-Null-Spiel ist immer die Basis und vermeint­lich das perfekte Spiel. Aber ganz ehrlich: Es gibt immer Sachen, die man verbessern kann, irgend­welche Kleinig­keiten, in denen du offensiver oder defensiver stehen kannst. Ein komplett perfektes Spiel gibt es für mich nicht, aber es ist das Ziel, so nah wie möglich heranzu­kommen. 

Im Fach­magazin „kicker“ bist du gegen­wärtig der notenbeste Zweitliga-Spieler. Ist das eine äußere Bewertung, auf die du Wert legst? 

Nein, Wert lege ich darauf nicht. Es ist aber etwas Schönes und eine Bestätigung für die Leistung, die man in den vergangenen Wochen erbracht hat. Viel wichtiger sind aber die Bewertungen und die Analysen mit dem Torwart­trainer. Ich würde nie sagen, dass ich gut gespielt habe, weil in der Zeitung eine gute Note steht. Das bewerte ich mit anderen Leuten. 

Als Tor­hüter ist man nicht immer der Held, der die Eins-gegen-eins-Situation gewinnt oder im Elf­meter­schießen einen Schuss zum Sieg pariert, sondern jeder Fehler kann auch direkt zum Gegentor führen, so dass man schnell zum Buh­mann wird. Wie gehst du mit dieser besonderen Druck­situation um?

Es muss dir bewusst sein, dass im Torwartspiel Fehler dazu­gehören, aber du darfst diesen Aspekt nicht zu nah an dich heran­lassen. Ich gehe nie in ein Spiel und denke: Hoffent­lich passiert mir heute kein Fehler. Ich versuche, ein sehr kontrolliertes Spiel abzuliefern und dann kommen die guten Szenen von ganz allein. Wenn doch mal ein Fehler passiert, dann gilt es, diesen hinter sich zu lassen und in den nächsten Aktionen wieder das normale Spiel fortzusetzen. Mit diesem Mindset gehe ich in die Spiele.

Was zeichnet in deinen Augen heutzu­tage generell einen guten Torhüter aus und in welchen Aspekten hat sich das Torwart­spiel gewandelt?

Die Basics sind wichtig. Du brauchst ein gutes Positions­spiel. Das verein­facht das Torwart­spiel. Wenn du dich zuvor gut vorbereitet hast, dann ist es am Ende einfacher, auf der Linie die Bälle zu halten. Davon bin ich überzeugt und das ist speziell in dieser Saison unser Ansatz. Wir wissen immer, was auf eine Aktion des Gegen­spielers folgt. Eine gute Vorpositio­nierung ist also sehr wichtig. Hinzu kommt der fußballer­ische Aspekt. Ein Torhüter wird heutzutage viel mehr als zusätz­licher Feld­spieler gebraucht. Er kann immer die Lösung sein, das Spiel fortzusetzen, wenn die Vorder­leute unter Druck geraten, speziell auch in unserem System. Das ist sicherlich die größte Veränderung in den vergangenen Jahren.

Wer ist dies­be­züg­lich das Non­plus­ultra auf dieser Position? 

Manuel Neuer ist sicherlich der kompletteste Tor­hüter. Jeder Tor­hüter hat seine Fähig­keiten, aber er vereint sämtliche Aspekte des Torwart­spiels. Darüber hinaus sehe ich gern Marc-André ter Stegen und Ederson von Man­chester City. Das sind meine drei Favoriten.

Im Torwart­spiel geht es also nicht mehr nur um die Tor­ver­hinderung, sondern auch um das Spiel mit dem Ball. Hier kommt dir deine fußballe­rische Ausbildung entgegen. Fühlst du dich mit dem Ball am Fuß eigentlich ebenso sicher wie mit deinen Hand­schuhen zwischen den Pfosten? 

Absolut. Überall, wo ich stehe, ist mein Gebiet. Ansonsten würde ich mich nicht außerhalb des Straf­raums bewegen. Für mich gehört das Fußballe­rische mittler­weile genauso dazu. Ich bin auch davon überzeugt, dass es eine Grund­voraus­setzung für einen guten Torwart ist, beidfüßig zu sein. Es gibt so viele Druck­situationen, in denen du die Möglich­keit haben musst, die Situation sauber zu lösen. Ich mag dieses komplette Tor­wartspiel.

Beim HSV wird die Ein­bindung des Tor­hüters ins Offensiv­spiel unter Trainer Tim Walter in dieser Saison sehr stark forciert. Wie fühlt sich das an? 

Ich fühle mich total wohl damit. Diese Spiel­weise ist zugleich Anreiz und Heraus­forderung. Es ist schön, dass mittler­weile eine richtige Entwicklung zu erkennen ist. Wir sind von Woche zu Woche besser geworden. Es ist die größte Bestätigung, wenn du irgendwann auf dem Platz spürst, dass es funktioniert, dass das, was du hinten fabrizierst, einen enormen Einfluss auf das Spiel und die freien Räume vorn hat. 

In unserem letzten Gespräch hast du erzählt, dass die vergangene Saison nicht einfach für dich war. Wie hat es Tim Walter geschafft, dein Selbst­bewusstsein wieder so zu stärken?  

Er hat mir einfach uneinge­schränkt das Vertrauen gege­ben und gesagt, dass er auf mich setzt und glaubt, dass mein Spieler­typ sehr gut in sein System passt. Diese Wert­schätzung hört man als Spieler gern und es war eine sehr gute Basis. An­schließend musste ich aber auch abliefern. Von Woche zu Woche ist dann mehr und mehr eine Selbst­ver­ständ­lich­keit reingekommen.

Die Nerven des einen oder anderen Beob­achters werden bei eurem Auf­bau­spiel schon einmal strapaziert. Wie sieht es mit deiner Selbst­sicher­heit aus, wenn du nach ein, zwei an­spruchs­vollen Pässen auch im dritten Anlauf flach rausspielst?

Das ist erstmal selbst­ver­ständ­lich, aber natürlich müssen wir die Situationen auch immer neu beob­achten. Manchmal ist auch der lange Ball die richtige Lösung. Ich würde nie sagen, dass ich den langen Ball nicht spielen will, weil wir sagen, dass wir immer flach raus­spielen. Wir haben einen spiele­rischen Ansatz, aber müssen je nach Situation immer das tun, was der Mann­schaft Erfolg verspricht. 

Apropos Mannschaft: Wie bewertest du insgesamt eure Entwicklung in dieser Saison? 

Wir sind definitiv viel weiter als zu Beginn der Saison. Man hat von Spiel zu Spiel eine Entwicklung gesehen. Wir sind im Spiel mit dem Ball besser geworden, aber vor allem auch in der Verteidigung gegen den Ball. Es ist ganz normal, dass unser Spiel­system mit so vielen Posi­tions­wechseln Zeit brauchte. Es ist zunächst schwer, die Positions­wechsel zu machen, aber noch schwerer ist es, die Posi­tionen, die verlassen wurden, auch wieder aufzufüllen. Diesen Aspekt haben wir jetzt besser verinnerlicht. Auch in der Box-Vertei­digung hauen wir jetzt besser da­zwischen, sind näher am Mann dran. Auch hier waren wir zu Saison­beginn noch häufig zu fahr­lässig und sind jetzt auf einem guten Weg. Doch die Entwicklung hört nie auf. Wir wollen weiter besser werden und noch präsenter Fußball spielen.  

Als Torhüter qua Position und in dieser Mann­schaft als Führungs­spieler nimmst du als laut­starker Spieler eine wichtige Rolle ein. Wie wichtig ist das Coaching und versagt einem nach 90 Minuten Brüllen eigentlich mal die Stimme? 

(lacht) Die Stimme ist durch jahre­lange Erfahrung darauf trainiert. Das ist also kein Problem. Als Tor­hüter muss ich coachen und dirigieren, da ich das Spiel von hinten am besten sehe. Ich bin davon überzeugt, dass du mit gutem Coaching gewisse Situationen schon im Vorfeld verhindern kannst. Zudem bin ich persönlich durch das Coaching immer aktiv im Spiel dabei. Das hilft mir für die Szenen, in denen ich dann auch körperlich gebraucht werde. 

Du hast im Zuge deiner Vertrags­verlänge­rung gesagt, dass Torwart­trainer Sven Höh euer Torwart­spiel nochmal auf ein anderes Level gehoben hat. Was macht er so anders? 

Seine Idee vom ganzen Torwart­spiel ist anders und diese hat jeden einzelnen von uns weiter­gebracht. Ein Aspekt ist die detaillierte Video­analyse von sämtlichen Situationen. Es sind so viele neue Aspekte, die er uns im Hinblick auf das Stellungs­spiel und die Ab­läufe der Bewegungen nähergebracht hat, so dass ich jetzt am Wochen­ende Fuß­ballspiele ganz anders und viel detaillierter beobachte. Das hilft einem letzt­endlich auch in seinem eigenen Spiel.      

Welche weiteren Torwart­trainer und Förderer sind dir in besonderer Erinnerung geblieben? 

Dimo Wache hat mich in Darmstadt sehr gefördert und mir mensch­lich sehr viel mit­gegeben. Er war selbst Torwart, hat als Kapitän von Mainz 05 alles durchlebt. Rolf Meyer war mein erster Profi­trainer in Osna­brück. Mit ihm stehe ich noch immer monatlich in Kontakt. Ich hatte echt viele Torwart­trainer, die mir geholfen haben und die ich nennen könnte. Jetzt mit Sven ist nochmal ein sehr spezieller hinzu­gekommen, unter dem ich mich zu einem späteren Zeit­punkt meiner Karriere weit­erent­wickelt habe.

Ein Tor­hüter hat nicht nur seinen eigenen Trainer, sondern besitzt auch sein eigenes Material. Wie wichtig sind die eigenen Handschuhe, wie viele ver­brauchst du pro Saison und hast du dies­bezüglich einen besonderen Tick? 

Hand­schuhe sind wichtig. An ihnen darf es nie liegen. Du musst rein­gehen, ein gutes Gefühl haben und sagen können: Das ist mein Ding! Hier bin ich mit meinem Aus­rüster Pope’s richtig zufrieden. Ich schätze, dass es ungefähr 40 Paar pro Saison sind. Ich benutze in jedem Spiel ein neues Paar und verwende es dann anschließend in der Trainings­woche. Zudem wasche ich die Handschuhe einen Tag vor dem Spiel, damit sie an­schließend gut trocknen können. Denn Hand­schuhe müssen für mich immer trocken sein. Zudem verwende ich beim Auf­wärmen nicht das Paar, was ich später im Spiel trage. Erst zum Spiel wird dann das nigel­nagel­neue Paar angezogen.  

Und ab­schließend: Warum spielst du bei Wind und Wetter immer in einem kurz­ärmeligen Tor­wart­trikot? Ist das doch eine kleine, tor­hüter­mäßige Macke?  

(lacht) Wie gesagt, als Tor­hüter gehört das ein bisschen dazu, seine Eigen­arten zu haben. Aber in dem Fall liegt es wirklich nur daran, dass ich mich in einem Kurz­armtrikot einfach befreiter und wohler fühle. Im Spiel ist mir nie kalt, egal wie kalt es draußen ist. Im Spiel spüre ich keine Kälte, da bin ich voller Adrenalin.