»Ich bin im wahrsten Sinne des Wortes ein Spieler«

Im HSVlive-Interview spricht Ludovit Reis über seine noch junge, aber bereits ereignis­reiche Lauf­bahn als Fuß­baller. Dabei erklärt der Neuzu­gang, inwieweit ihn der Straßen­fußball nahe Amster­dam und das Internats­leben beim FC Groningen nach­haltig geformt haben, wie er als 19-Jähriger seinen Wechsel zum Weltclub FC Barcelona erlebte und welche Ziele er sich für das nächste Kapitel seiner Karriere beim HSV gesteckt hat.

Das gewisse Etwas kann man Ludovit Reis nicht ab­sprechen: Auf dem Platz vereint der zentrale Mittel­feld­spieler eine besondere Kombination aus robuster Zwei­kampf­führung und filigraner Ball­beherr­schung. Und auch abseits seiner grünen Spiel­bühne kommt der HSV-Neu­zugang, der in diesem Sommer vom FC Barcelona an die Elbe wechselte und einen Vier­jahres­vertrag bei den Rothosen unter­schrieb, mannig­faltig und besonders daher. Sehr höflich im Umgang, äußerst ruhig in der Sprache, aber durchaus meinungs­stark und für sein noch junges Alter unge­mein reflektiert und selbst­bewusst, spricht der 21-Jährige in seinem ersten HSVlive-Interview über einen Werde­gang, der losgelöst der ersten fußballer­ischen und menschlichen Ein­drücke auch faktisch das gewisse Etwas erahnen lässt: 2000er Jahrgang, slowakische Wurzeln, nieder­ländische Heimat, Ausbildung im Fußball­internat des FC Groningen, Profi-Debüt mit 17, Wechsel zum großen FC Barcelona mit 19, U21-National­spieler der Nieder­lande und nach einer Zwischen­station im beschau­lichen Osnabrück fortan in der Weltstadt Hamburg beim HSV zuhause. „Ich bin im wahrsten Sinne des Wortes ein Spieler“, sagt der Rechtsfuß, der das Spielen bereits in seinem Spitz­namen „Ludo“ (Latein: ich spiele) trägt und  diese Aussage im Gespräch mit reichlich Erklärungen unter­mauert.

Ludo, du besitzt sowohl die slowakische als auch die nieder­ländische Staats­bürgerschaft. Welche Geschichte steckt dahinter? 

Meine Eltern stammen aus der Slowakei. Sie sind Ende der 90er-Jahre aus Košice in die Nieder­lande ausge­wandert. Mein älterer Bruder war damals erst ein Jahr alt, mein Zwillings­bruder und ich sowie meine jüngere Schwester sind dann wiederum in den Nieder­landen geboren und aufge­wachsen. Als Familie haben wir immer zusammen­gehalten, ich bin ein großer Familien­mensch. 

Du bist in der Nähe von Amster­dam geboren und aufge­wachsen und hast dort auch deine ersten fußballer­ischen Schritte gemacht. Welche Erinnerungen hast du an diese Zeit?

Solange ich denken kann, bestimmt der Fußball mein Leben. Mit meinem älteren Bruder und meinem Zwillings­bruder habe ich nach der Schule immer als Erstes Fußball gespielt. Anfangs ausschließ­lich draußen auf der Straße. Ich zählte immer zu den jüngsten Kindern auf den Plätzen und musste dement­sprechend viel einstecken. (lacht)    

Gegen den Ball bist du heute ein sehr robuster Spieler. Lässt sich diese Qualität auf deine Zeit als Straßen­fußballer zurück­zuführen?

Auf jeden Fall. Denn als ich älter wurde, kehrten sich die Kräfte­verhält­nisse um. Ich war nicht länger der kleine Ludo, der immer ein­stecken musste, sondern wusste in den Zwei­kämpfen selbst auszu­teilen. Irgendwann lagen die anderen Spieler am Boden. (lacht) Der Straßen­fußball hat mir also viel gegeben und mich nie losge­lassen. Auch heute noch spiele ich super gern mit meinen Kumpels an freien Tagen. Dann ist es auch egal, wie müde ich bin. Am Ende stehe ich mit ihnen auf dem Platz. 

Im Verein hast du zunächst beim SV Hoofddorp, einem Club aus der Nachbar­schaft gespielt, ehe du im Alter von 15 Jahren in das 200 Auto­kilometer entfernte Internat des FC Groningen gewechselt bist. Wie schwer fiel dir damals diese Entscheidung? 

Es war immer mein großer Traum, Profi-Fußballer zu werden. Wenn sich die Chance bietet, diesem Traum näher zu kommen, dann muss man diesen Schritt gehen. So habe ich das damals betrachtet und mit meinem Vater, meinem damals wie heute engsten Vertrauten, besprochen. Er hat mir damals gesagt: „Ludo, du musst jetzt stark sein.“ Und er hatte recht. Es war eine harte Zeit. 

Inwiefern? 

Wie eingangs erwähnt, bin ich ein riesiger Familien­mensch. Plötzlich war ich als junger Teenager mehr als 200 Kilometer von meinem Zuhause und meiner Familie getrennt und lebte bei einer Gast­familie. Diese Situation allein war heraus­fordernd und dann kam hinzu, dass ich in meinem ersten Jahr in Groningen kaum gespielt habe. Häufig bin ich erst in den letzten zehn Spiel­minuten einge­wechselt worden. Meine Eltern sind damals zu jedem Spiel gekommen: 200 Kilometer hin, 200 Kilometer zurück, um mich zehn Minuten spielen zu sehen. Diese Situation hat mich frustriert und sehr ins Grübeln gebracht. 

Stärken mit und gegen den Ball: Ludovit Reis bezeichnet sich gern als Box-to-Box-Player.   

Gab es in dieser Zeit Momente, in denen du am liebsten wieder mit ihnen nach Hause gefahren wärest? 

Ja, diese Momente gab es und ich erinnere mich sehr gut an einen Schlüssel­moment aus dieser Zeit. Ich saß damals gemeinsam mit meinem Vater im Auto und war richtig traurig. Daraufhin hat er mich nach dem Warum gefragt und ich habe ihm gesagt, dass ich im wahrsten Sinne des Wortes ein Spieler bin. Ich muss spielen, um Freude an dem Spiel zu haben. Mein Vater hat daraufhin sein Telefon genommen und mir folgendes gesagt: „Alles klar, Ludo – du wirst jetzt die Entscheidung treffen: Entweder rufst du jetzt deinen Trainer an, sagst ihm, dass du aufhörst und mit uns nach Hause fahren wirst oder du wirst kämpfen und sehen, was dabei rumkommt.“ Das hat mir die Augen geöffnet. Ich habe mich für letzteres entschieden und ein Jahr später mein Debüt in der 1. Mann­schaft gegeben.

Du sprichst deine ersten Schritte im Alter von 17 Jahren bei den Profis des FC Groningen an: Wie schwer ist es, als so junger Spieler auf der Sechs zu agieren? Schließ­lich ist auf dieser Position Erfahrung besonders wertvoll.

Ich bin schon immer ein Spieler gewesen, der in Stress­situationen die Ruhe bewahrt. Wenn ich in Groningen vor 20.000 Zuschauern gespielt habe, dann habe ich keinen Druck verspürt. Das hat mir sicherlich geholfen. Zudem waren meine Mit­spieler immer unter­stützend für mich da – sei es im Training oder im Spiel. Dadurch hatte ich immer das Mindset, dass es kein Problem ist, wenn ich mal einen Fehler mache. Ich habe mir nach Fehlern immer vorgesagt, dass der nächste Ball wieder sitzen wird. Dadurch ist das Vertrauen in das Team und meine eigene Person immer weiter gestiegen.

Woher besitzt du diese enorme innere Ruhe?

Ich habe diese Eigen­schaft wahr­scheinlich von meinem Vater geerbt. Mein Vater ist ein unglaub­lich ruhiger und geduldiger Mensch. Er hat mir immer gelehrt, dass ich mir für alle Dinge Zeit nehmen soll. „Erst zuschauen, dann reden und wenn du redest, dann lass deine Füße für dich sprechen“, lautete sein Credo. Mein Vater hat mir auf meinem Weg immer wieder geholfen. Er gehört zu den wichtigsten Menschen in meinem Leben. Jede Entscheidung, die ich treffe, sei es im Fußball oder im Leben, bespreche ich mit ihm. Er ist eine große Inspiration für mich.

Ist er dabei immer unterstützend oder auch mal kritisch?

Beides, er ist einfach ehrlich zu mir. Wenn ich zum Beispiel schlecht gespielt habe, dann sagt er mir deutlich ins Gesicht, dass das nicht der Ludo war, den er kennt. Solche Kritik nehme ich mir sehr zu Herzen. Ich möchte es dann im nächsten Spiel unbedingt besser machen. Und zwar nicht unbedingt für ihn, sondern vor allem für mich.

Nach vier Jahren beim FC Groningen bist du 2019 als Perspektivspieler zum FC Barcelona gewechselt. Was war das damals für ein Gefühl, als du gehört hast, dass ein solcher Weltclub an deinen fußballer­ischen Künsten interessiert ist? 

Ich habe das zu Beginn gar nicht glauben können. Ich war damals beim Training, als mich meine Mit­spieler gefragt haben, ob ich gelesen habe, dass mich der FC Barcelona will. Ich habe daraufhin meinen Berater angerufen und er hat mir bestätigt, dass es wahr ist. Für mich war das verrückt, es fühlte sich surreal an. Der FC Barcelona, einer der größten Fußball­clubs der Welt, wollte mich und lud kurze Zeit später meine Eltern und mich ein, damit wir uns vor Ort ein Bild von den Beding­ungen machen konnten. Das alles nur für mich. Es war unglaublich. 

Was hast du während deiner Zeit beim FC Barcelona gelernt? 

Ich habe gelernt, noch besser mit dem Ball umzugehen und ziel­strebiger nach vorn zu spielen. Die Zeit bei Barca hat dazu geführt, dass ich heute sagen kann, dass ich ein wahrer Box-to-Box-Player bin, weil ich den offensiven Aspekt des Spiels gelernt habe. In Groningen war ich noch vorrangig ein robuster und zwei­kampf­starker Spieler, der das Spiel­gerät nach dem Ball­gewinn nur weiter­gepasst hat. Nun ist das anders: Jetzt kann ich mich auch zwischen den Straf­räumen offensiv bewegen.      

Du hast aus­schließlich für die 2. Mannschaft des Clubs gespielt, durftest aber auch bei den Profis mit­trainieren. Wie war das Leben in einer Kabine mit Lionel Messi und Co.? 

Zu Beginn war es verrückt, ein echter Wow-Effekt. Mit Frenkie de Jong hatte ich zum Glück einen Lands­mann an der Seite, mit dem ich nieder­ländisch sprechen konnte. Das hat mir anfangs geholfen. Anschließend habe ich mich aber auch schnell eingelebt. Ich bin kein schüchterner Typ, sondern bin ein Mensch, der auf andere zugeht. Ich habe schnell Spanisch gelernt, um auch mit meinen Mit­spielern ins Gespräch zu kommen und habe dann auch keine Unter­schiede bezüglich ihres Ansehens gemacht. Letztlich sind das alles auch nur normale Typen und sie wollen genau als solche gesehen und behandelt werden.  

Normale Fuß­baller sind es aber sicherlich nicht. Welche Spieler haben dich am meisten beeindruckt?

Messi war spielerisch atem­beraubend und der beste Spieler im Team. Außerdem bin ich ein großer Fan von Sergio Busquets. Er ist mein Vorbild, da er auf meiner Position spielt und einfach diesen 360-Grad-Blick über das gesamte Spiel hat. Diese Jungs bei ihrer täglichen Arbeit haut­nah mitzuerleben, war eine unglaub­liche Erfahrung. 

Deine Ambition war es, perspektivisch auch mit diesen Jungs gemeinsam auf dem Platz zu stehen. Welche Schritte haben in deinen Augen dafür gefehlt?  

Das ist schwierig zu sagen. Als Spieler liegt das eigene Glück immer auch ein Stück weit in den Händen des jeweiligen Trainers. Es war seine Entscheidung, die ich selbst­verständ­lich akzeptieren musste. Das heißt nicht, dass mein Selbst­bewusst­sein dadurch erschüttert wurde. Mein Weg sollte ein anderer sein. Ich bin noch ein sehr junger Spieler.

War es rückblickend die richtige Entschei­dung für deine Karriere, so früh zu einem Welt­club zu wechseln? 

Das ist eine gute Frage, die ich wahr­scheinlich nie richtig beantworten kann. Ich hatte damals auch gute Angebote von anderen Clubs, insbe­sondere auch den Top-Clubs in meiner nieder­ländischen Heimat. Wer weiß, wie es gelaufen wäre, wenn ich einen anderen Weg einge­schlagen hätte. Doch ich war damals ein junger Mensch und der FC Barcelona wollte mich verpflichten. Welcher junge Spieler hätte dieses Angebot nicht ange­nommen? 

So bist du anschließend in Deutsch­land, genauer gesagt im beschau­lichen Osna­brück gelandet, wo du in der vergangenen Spielzeit als Leih­spieler des VfL Osna­brück aktiv warst. Wie hast du diesen Schritt in deiner Karriere erlebt?  

Für mich war es wichtig, innerhalb eines Clubs wieder auf höchstem Niveau zu spielen. Ich kannte dieses Gefühl aus Groningen, wo ich als junger Spieler in der Profi-Mann­schaft vor einem großen Publikum gespielt habe. Natürlich war es lehrreich, mit den Profis des FC Barcelona zu trainieren und in der 2. Mann­schaft des Clubs zu spielen, aber mir war es wichtig, wieder bei den Profis Spiel­minuten zu sammeln. 

Wie würdest du die 2. Bundes­liga beschreiben?  

Die 2. Liga in Deutschland ist eine unan­genehme Liga, in der viele Mann­schaften einen besonders robusten Fuß­ball spielen. Das ähnelt dann eher dem „Kick-and-Rush“-Prinzip. Das war zu Beginn nicht ganz einfach und eine Umstellung für mich, aber ich hatte unterm Strich ein sehr schönes Jahr in Osna­brück. Ich behalte die Mitspieler, Mit­arbeiter und Fans in guter Erinnerung. 

Für den VfL Osnabrück hast du im Saison­end­spurt sogar deine Teil­nahme an der U21-EM abgesagt. Der Ausgang der Saison verlief mit dem Abstieg dann sehr bitter. Wie hast du das verkraftet?    

Das war damals eine schwere Entschei­dung für mich, aber ich wusste, dass der VfL mich braucht und ich wollte das Team im End­spurt unter­stützen. Ein Ab­stieg tut immer weh, das steht außer Frage. Du kämpfst so lange dafür, um in der Liga zu bleiben und dann siehst du am Ende die eigenen Mit­spieler und Mit­arbeiter weinen. Das tut sehr weh, aber es ist eine Erfahrung, die mich stärker machen kann. Nun bin ich hier in Hamburg beim HSV und freue mich auf die neue Heraus­forderung.

Du hast in der vergangenen Saison zwei­mal gegen diesen Club gespielt. Wie war damals dein Eindruck vom HSV und wie hast du den Club erlebt, seitdem du selbst ein Teil davon bist?  

Der HSV ist ein großer Club. Das siehst du direkt. Da reicht schon ein Blick in das Stadion. Der HSV zählt zu den wenigen Mann­schaften, die in dieser um­kämpften Liga einen spieler­ischen Ansatz wählen und Fußball spielen wollen. Das gefällt mir sehr gut. Die vergangene Saison hat aber auch gezeigt, dass die Größe des Clubs, die profes­sionellen Bedingungen und schöner Fuß­ball allein nicht reichen, um sich in der 2. Liga zu behaupten. Deshalb erwarte ich eine richtig Challenge. Ich bin überzeugt, dass wir das Rüst­zeug dafür haben, eine gute Saison zu spielen, aber es wird ein hartes Stück Arbeit.   

Inwie­weit könnte es dir dabei entgegen­kommen, dass du nun in einem Team spielst, in welchem du sowohl deine kämpfer­ischen als auch deine spieler­ischen Fähigkeiten ein­bringen kannst? 

Das hilft mir hoffent­lich sehr und war ein weiterer Grund, warum ich zum HSV gewechselt bin. Wenn ich Teil eines Clubs bin, der Fuß­ball spielt, dann kann ich die volle Stärke und Viel­seitig­keit meines Spiels entfalten. Ich freue mich sehr darauf. Auch auf den besonderen Ansatz, den Trainer Tim Walter verfolgt. Für mich ist das eine komplett neue Erfahrung.