1,15 Millionen Sekunden, 19.255 Minuten, 320,92 Stunden und damit mehr als 13 (!) volle Tage trug Uwe Seeler in seiner Bundesliga-Karriere die Spielführerbinde für den HSV. Wie so oft in der mehr als 136 Jahre umfassenden und damit pickepackevollen HSV-Chronik thront der größte HSVer aller Zeiten damit ganz oben. Mit Peter Nogly gab es überhaupt nur einen weiteren Bundesliga-Spieler, der neben Seeler als HSV-Kapitän die magische 10.000-Minuten-Marke geknackt hat. „Uns Uwe“ ist also nicht nur der größte HSVer aller Zeiten, sondern auch DER Spielführer in den Geschichtsbüchern der Rothosen.
Für die Binde schien der am 5. November 1936 in Eppendorf geborene Hamburger dabei qua Familienstammbaum ebenso vorgesehen wie für den Fußball selbst. Denn sowohl sein Vater Erwin als auch sein um knapp fünf Jahre älterer Bruder Dieter waren vor ihm ebenfalls Kapitän des HSV.
Wie der Vater …
Erstgenannter Erwin Seeler, der nach Stationen bei Rothenburgsort 96 und dem SC Lorbeer 06 von 1938 bis 1948 mit der Raute auf der Brust spielte, füllte das Amt dabei während der schweren Kriegs- und Nachkriegszeit aus. „Old Erwin“, wie er schon in jungen Jahren vielsagend genannt wurde, war der geborene Kapitän, sozusagen ein Spielführer, wie er im Buche steht: Nicht zuletzt wegen seiner schweißtreibenden Arbeit im Hamburger Hafen wusste er, wie man die Ärmel hochkrempelt, anpackt und vorangeht. Erwin Seeler war dadurch also der Typ Haudegen, der zugleich aber auch immer das Kollektiv und die Kameradschaft im Blick hatte. So regelte der gebürtige Hamburger auch viele Dinge außerhalb des Platzes und fiel ebenso also Kümmerer auf, der unter anderem sicherstellte, dass die Kollegen und ihre Familien in schweren Zeiten mit dem Nötigsten, allen voran Essen, versorgt sind.
Uwe Seeler als kleiner Butscher auf dem Arm von Vater Erwin.
Der Mix aus Härte und Fürsorge spiegelte sich auch im Hause Seeler in der Erziehung der eigenen Kinder wider. „Ich habe meinen Vater bei seinen Spielen immer begleitet und dann ganz genau beobachtet. Er war ein ziemlich harter Hund und ein guter Fußballer“, erinnerte sich Uwe Seeler einmal in einem HSVlive-Interview an seinen „Vadder“ zurück. „Er hat meinen Bruder und mich auch mal auf einen Stuhl gesetzt und uns eine Ansage gemacht. Er sagte: ‚Damit ihr beiden Bescheid wisst: Weicheier will ich hier zu Hause nicht haben! Wenn ihr mal eine Verletzung habt, dann packt einen nassen Lappen drauf und dann geht‘s weiter.‘ Das hat echt gesessen.“ Einen besonders nachhaltigen Eindruck machte auch, wie Vater Erwin neben der nötigen Härte absolute Demut predigte. „Einer seiner Grundsätze lautete: Geld ist nicht alles. Wir wussten, dass er gerade in der Nachkriegszeit extrem viele Schichten im Hafen hatte, sehr hart gearbeitet und trotzdem Fußball gespielt hat. Er hat nie gejammert. Also war für uns klar: Wir dürfen auch nicht jammern“, so Uwe Seeler.
… so die Söhne
Gejammert wurde dann auch selten, gebolzt dafür umso mehr. Diesbezüglich eiferte „Uns Uwe“ nicht nur dem eigenen Vater, sondern eben auch seinem älteren Bruder Dieter – „ich bin ihm einfach immer hinterhergelaufen, insofern kam das mit dem Fußball von selbst“ – nach. Und jenem Dieter Seeler gebührt im Geschichtskosmos des HSV als Kapitän ein ganz besonderer Platz: So führte er die Rothosen in der im Jahr 1963 neu gegründeten Bundesliga als erster HSV-Kapitän überhaupt auf den Rasen – am 24. August 1963 im ersten Ligaspiel beim SC Preußen Münster. Ein historischer Moment in der Premieren-Saison 1963/64 der Bundesliga, in deren Verlauf Dieter Seeler 32 Jahre alt wurde, damit bereits zu den älteren Spielern zählte und bisweilen nicht immer zum Einsatz kam, allerdings als etatmäßiger und damit erster Bundesliga-Kapitän des HSV fungierte.
Kapitän im ersten Bundesliga-Spiel des HSV: Dieter Seeler (1. v.l.).
Eine Tatsache, die in den Köpfen von Fußballhistorikern und Fans nicht immer gleich faktensicher verankert ist. Denn zu dieser Zeit, Anfang der 60er-Jahre, war der Mittzwanziger Uwe Seeler nicht nur als Aushängeschild des HSV und der Bundesliga, sondern seit 1961 auch als Kapitän der deutschen Nationalmannschaft omnipräsent. Beim HSV trug „Uns Uwe“ die Kapitänsbinde in einem Bundesliga-Spiel allerdings erstmals erst am 14. Dezember 1963 beim Auswärtsspiel gegen den 1. FC Nürnberg (2:3), und zwar eben in Vertretung seines Bruders Dieter. Auf diese Partie folgten dann 215 weitere Bundesliga-Spiele bzw. wie eingangs erwähnt 19.165 Bundesliga-Minuten als HSV-Kapitän, in denen Seeler die Binde nur siebenmal aufgrund einer Auswechslung vorzeitig ablegte.
Gewinnen wollen, verlieren können
Das Amt des Spielführers füllte der HSV-Rekordtorschütze (507 Treffer) dabei mit den dargelegten Tugenden seines Vaters aus: Auf dem Platz ging er äußerst emsig, aber auch aufbrausend ehrgeizig voran. „Ich bin auf dem Sportplatz ein völlig anderer Typ gewesen. Nicht wie sonst, so ganz ruhig und bescheiden, sondern sehr laut. Ich wollte gewinnen, war sehr ehrgeizig und habe auch viel gemeckert. Und wenn einer nicht so mitzog, dann hat er eben etwas Dampf bekommen“, sagte Uwe Seeler einst über sein jüngeres Ich. Wohlwissend, dass er auch den Teamgedanken und die Demut seines Vaters verkörperte. „Meine Mitspieler kannten mich ja alle und wussten, wie ich normalerweise war. Aber im Spiel, wenn es um alles ging, dann wollte ich gewinnen.“
Zum „gewinnen wollen“ gehörte bei Uwe Seeler auch immer das „verlieren können“. Ein Sprichwort, das er schon in der Jugend von Trainer Günther Mahlmann beigebracht bekam und welches im Laufe seiner Karriere zu seinem fußballerischen Credo wurde. „Niemand verliert gerne. Doch man kann auch aus Niederlagen lernen und an ihnen wachsen“, fasste Uwe Seeler in einem Gastbeitrag für den SPIEGEL zum 50. Jahrestag des berühmten „Wembley Tores“ einmal zusammen. Kaum ein Spiel seiner so illustren Karriere bringt diesen Aspekt und damit auch einen großen Teil seines Verständnisses als Spielführer so treffend auf den Punkt wie das WM-Finale von 1966 gegen England. Von dem Gefühl und der Wut durchsetzt, im wohl wichtigsten Spiel seines Lebens betrogen worden zu sein, reagierte ein sichtlich abgekämpfter Seeler als Kapitän der Nationalmannschaft mit dem wohl höchstmöglichen Maß an Selbstbeherrschung und Sportsgeist, als er zwar mit gesenktem Kopf, aber als aufrechter Verlierer das Feld verließ – eingefangen im „Sportfoto des Jahrhunderts“ von Sven Simon.
Foto: METELMANN Photographie
Es ist einer dieser vielen Momente in der beispiellosen Karriere des am 21. Juli 2022 im Alter von 85 Jahren verstorbenen größten HSVers aller Zeiten, von denen er sowohl beim HSV als auch in der Nationalmannschaft die meisten als Mannschaftskapitän beging. Da ist es nur folgerichtig, dass Seeler nach Fritz Walter (1958) und neben Franz Beckenbauer (1982), Lothar Matthäus (2001), Jürgen Klinsmann und (2016) und Philipp Lahm (2017) seit 1972 als einer von lediglich sechs Ehrenspielführern des DFB geführt wird. Getreu eines weiteren Sprichwortes: „Helden kommen und gehen, aber Legenden bleiben für immer.“
Otto Metelmann & Thomas Metelmann:
»UWE SEELER – Ikonische Bilder eines Idols«
Hardcover, 256 Seiten, 68,– €
Verlag Die Werkstatt: Oktober 2023
„UWE SEELER – Ikonische Bilder eines Idols“, unter diesem Titel ist am 6. Oktober 2023 ein sehr sehenswerter Bildband der Autoren Otto Metelmann und Thomas Metelmann über den Verlag „Die Werkstatt“ erschienen. Auf 256 Seiten und mit 160 Fotos und Abbildungen setzt die Fotografen-Familie Metelmann dem größten HSVer aller Zeiten dabei ein sehr persönliches Denkmal: Denn von klein auf begleitete Otto Metelmann Uwe Seeler mit seiner Kamera und war immer ganz nah dran an der Fußball-Legende. Der Bildband vereint dadurch sowohl Highlights aus der beispiellosen Karriere des Mittelstürmers als auch bislang unveröffentlichte Bilder des Privatmenschen Uwe Seeler; darunter im Übrigen auch die großen Aufnahmen auf S. 52 und S. 55 dieser Story. Unterm Strich für „Uns Uwe“-Fans und -Kenner gleichermaßen ein ganz besonderes Werk.