Fußball auf der Insel, Abstiegskampf in der Bundesliga, Wechsel-Wirrwarr im Sommer, Aufreger in Dresden sowie die ersten sportlichen Höhen und Tiefen beim HSV. Darüber hinaus die Corona-Pandemie als ständiger Begleiter und die Erweiterung des Familienglücks mit der Geburt der zweiten Tochter. – TONI LEISTNER blickt im großen HSVlive-Interview auf ein Jahr 2020 zurück, das nicht nur im Allgemeinen, sondern auch für ihn im Speziellen sehr besonders war und unvergessen bleiben wird.
Wenn Toni Leistner in einen Zweikampf geht, dann wird’s ungemütlich: Ob am Boden oder in der Luft, der 1,90 Meter große und 87 Kilogramm kräftige Innenverteidiger behält mit seiner kompromisslosen und gut getimten Zweikampfführung allzu oft die Oberhand im persönlichen Duell, besitzt dadurch die für einen Abwehrspieler oft geforderte und vielfach zitierte „Präsenz“ auf dem Platz. Auch abseits davon präsentiert sich der 30-jährige Neuzugang, der im Sommer nach einer Bundesliga-Rückserie als Leihspieler des 1. FC Köln vom englischen Zweitligisten Queens Park Rangers an die Elbe wechselte, als sehr meinungsstarke und gefestigte Persönlichkeit. Schließlich hat der gebürtige Dresdner in seinem noch jungen Leben bereits eine Menge erlebt – vor allem in diesem für alle Menschen ohnehin schon so verrückten Jahr 2020, das für ihn sportlich wie menschlich nochmal besondere Ereignisse und Prüfungen bereithielt: Vom abrupten Ende seines England-Abenteuers zu Jahresbeginn über seine Premiere in der Bundesliga zu Corona-Zeiten bis hin zu einer Auseinandersetzung mit einem Fan, die für bundesweite Schlagzeilen und Diskussionen sorgte, und die Geburt seiner zweiten Tochter – auf all das blickt Toni Leistner in Form eines Jahresrückblicks im ausführlichen Gespräch mit dem HSVlive-Magazin zurück. Dabei wird deutlich, dass sich hinter dem breiten Kreuz des beinharten Abräumers ein ebenso freundlicher wie bodenständiger Zeitgenosse verbirgt, der gern einen lockeren Spruch auf den Lippen trägt und für den die eigene Familie an oberster Stelle steht.
Toni, das Jahr 2020 begann für dich gleich schon kurios: Am Neujahrstag gab es einen 6:1-Kantersieg gegen Cardiff City, zugleich war es dein letztes Spiel für die Queens Park Rangers, da du kurze Zeit später keine Berücksichtigung mehr gefunden hast und Ende des Monats verliehen wurdest. Hättest du das damals am 1. Januar gedacht?
Nein, zu diesem Zeitpunkt nicht. Für mich lief es relativ gut, wir hatten gute Ergebnisse und ich habe gegen Cardiff bis auf die letzten Minuten durchgespielt. Unter dem damaligen Trainer gab es allerdings die kuriose Situation, dass ich immer, wenn das Transferfenster aufging, nicht mehr gespielt habe, da er mich von der Gehaltsliste runterhaben wollte. Dennoch hatte ich mich damals gedanklich nicht damit befasst, dass zum Ende der Transferperiode ein Bundesligist auf mich zukommen könnte. Insofern war es also ein erfolgreicher, aber rückblickend auch ein kurioser Start ins neue Jahr.
Insgesamt hast du anderthalb Jahre in England auf der Insel gespielt und gelebt. Welche Erfahrungen hast du dort gesammelt?
Ich persönlich habe England als ein schon etwas chaotisches Land wahrgenommen: keine guten Straßenverhältnisse, gefühlt immer Stau und besonders außerhalb des Stadtzentrums von London auch durchaus dreckig. Insgesamt waren es aber sehr lehrreiche anderthalb Jahre, in denen ich menschlich sehr viel mitgenommen habe. Ich habe mein Englisch verbessert, meine Tochter ist in England in den Kindergarten gegangen und auch fußballerisch habe ich mich weiterentwickelt.
War es immer ein Kindheitstraum von dir, irgendwann mal in England Fußball zu spielen?
Ja, schließlich ist England das Mutterland des Fußballs. Die Stimmung in manchen Stadien war schon extrem, auch wenn es im Vergleich zu Deutschland komplett anders ist. In den traditionsreichen deutschen Stadien wird meistens 90 Minuten lang gesungen, das gibt es in der Championship in dieser Form nur bei ganz wenigen Clubs. Stattdessen fiebern die Engländer extrem situationsbezogen mit. Wenn du jemanden über die Bande schickst oder ihn richtig abgrätschst, dann wirst du dafür gefeiert und deine Aktion mit Standing Ovations honoriert. Als Abwehrspieler war das schon echt geil, weil die Fans die Aggressivität in den Zweikämpfen lieben und entsprechend feiern. Zudem fordern die Zuschauer immer, dass man schießen soll – selbst wenn der Ball noch 50 Meter vom Tor entfernt ist. Deshalb entstehen dort wahrscheinlich auch so viele Traumtore. (lacht) Die englischen Fans leben es einfach anders, sie sind eher die Beobachter des Fußballspiels und reagieren mehr auf das, was geboten wird, dafür gibt es nicht so sehr diesen 90-minütigen Support wie in Deutschland.
Ende Januar bist du auf Leihbasis mit Kaufoption zum 1. FC Köln gewechselt. Für dich war es das nächste Abenteuer, da du noch nie in der Bundesliga gespielt hattest und die Geißböcke im Abstiegskampf steckten. Inwieweit hat sich diese Leihe für dich sportlich bezahlt gemacht?
Es hieß zunächst, dass ich mich hintenanstellen muss, was für mich aber absolut okay war, weil ich die Herausforderung gesucht habe und beweisen wollte, dass ich auch in der Bundesliga bestehen kann. Anschließend gehörte dann auch etwas Glück dazu: Innenverteidiger wie Bornauw und Czichos sind gesperrt beziehungswiese verletzungsbedingt ausgefallen und in solchen Situationen musst du als Reservist dann da sein und abliefern. Das ist mir gleich zu Beginn erfolgreich gelungen, so dass ich viele Spiele in der Rückrunde gemacht habe.
Du hast in der Bundesliga-Rückrunde trotz der besonderen Umstände ordentlich Eigenwerbung betrieben, zähltest mit knapp 70 Prozent gewonnener Duelle zu den besten Zweikämpfern der Liga. Was ist dein Geheimrezept im Zweikampf?
Ich denke, dass ich während meiner Zeit auf der Insel mein Zweikampfverhalten vor allem in der Luft, aber auch am Boden nochmal verbessert habe. In England gibt es viele noch schnellere Spieler als in Deutschland, so dass man sein Stellungsspiel ändern muss, um überhaupt hinterherzukommen. Das eine Geheimrezept gibt es diesbezüglich aber nicht. Zweikämpfe verlaufen häufig fifty-fifty, so dass man auch mal Glück haben muss.
Die Rückrunde verlief aufgrund der Corona-Pandemie alles andere als gewöhnlich. Die Saison wurde unterbrochen, der Spielbetrieb vor leeren Rängen fortgesetzt. Wie hast du diese Zeit erlebt?
Sportlich hat uns die Corona-Phase in Köln ziemlich stark erwischt, da wir nach dem Re-Start bis zum Saisonende kein Spiel mehr gewonnen haben. Wir waren eine Mannschaft, die sich enorm vor den Fans gepusht und über das Zusammenspiel mit ihnen und auch über die mannschaftliche Geschlossenheit definiert hat. Dann plötzlich nur noch in Kleingruppen zu trainieren und vor leeren Rängen zu spielen, hat bei uns etwas zerrissen. Wir waren am Ende einfach froh, dass wir die Klasse gehalten haben. Dafür hatten wir zuvor den Grundstein gelegt.