FRANK WETTSTEIN, Vorstand des HSV, spricht über den Umgang mit der Pandemie und die schwerwiegenden Folgen, zudem gibt er Einblicke in seine bisherigen sechs Jahre beim HSV.

Herr Wettstein, Sie hatten vor kurzem, genauer gesagt am 15. November dieses Jahres, Ihr sechsjähriges Dienstjubiläum als Vorstand der HSV Fußball AG. Wie viel HSV und Hamburg stecken mittlerweile in Ihnen als gebürtigem Rheinländer?

Ich überlasse die Loblieder auf die Stadt Hamburg und den attraktiven Standort denjenigen, die sich glücklicherweise als gebürtige Hamburger bezeichnen dürfen. Ich fühle mich in der Stadt wohl und habe viele nette Leute, Plätze und Restaurants kennengelernt. Als gebürtiger Rheinländer finde ich mich schnell und überall zurecht. Und HSV-Fan bin ich aus voller Überzeugung.

Was haben Sie in dieser Zeit und in dieser sportlich wie finanziell wohl schwierigsten Phase in der HSV-Geschichte über sich und den Club gelernt?

Die Jahre mit dem Abstieg und der nun dreijährigen Zugehörigkeit zur 2. Bundesliga sind sicher die sportlich schwierigste Phase. Ich habe mich in den vergangenen Jahren viel mit der Historie des HSV befasst, um den Klub und sein Umfeld noch besser zu verstehen. Es gab schon einige sportliche und noch mehr finanziell schwierige Phasen in der Vereinshistorie. In der Regel folgt im Fußball auf die sportliche Krise, wenn diese nicht nur von kurzer Dauer ist, die finanzielle. Und nach der sportlichen Krisenbewältigung stabilisiert sich genauso regelmäßig die wirtschaftliche Situation eines Klubs. Beim HSV hat die finanzielle Krise schon weit vor der Ausgliederung angefangen, als man sich sportlich noch gut aufgestellt wähnte. Daher habe ich beim HSV gelernt, dass gute Zeiten lange nachhalten, schwierige Phasen aber oft schnell in Vergessenheit geraten.

Das bald endende Jahr hielt mit der Corona-Pandemie große und ungeahnte Herausforderungen bereit. Inwieweit zählt 2020 zu den intensivsten Jahren Ihrer HSV-Zeit?   

Sicher, 2020 war ein intensives Jahr, aber die vorhergehenden waren es dennoch nicht weniger. Wir haben in den vergangenen Jahren intensiv die Folgen der Ausgliederung abgearbeitet, schwierige und vor allem teure Betriebsprüfungen für Vorjahre begleitet, rechtlich wie betrieblich erforderliche Prozesse und Strukturen eingeführt und verbessert, den Einkauf, die Steuer- und Rechtsabteilung neu implementiert, das Berichtswesen neu aufgesetzt und die Konzernstrukturen bereinigt. Parallel mussten die finanziellen Voraussetzungen geschaffen werden, um einen Abstieg aus der Bundesliga stemmen zu können, die Lizenz zu sichern und gleichzeitig die bestehenden Finanzschulden in ein tragfähiges Konzept überführt werden. Ohne diese Vorarbeiten wäre 2020 sicher deutlich schwieriger und intensiver verlaufen.

Wann war Ihnen das erste Mal vollumfänglich bewusst, dass das im Frühjahr noch so neuartige Corona-Virus derart weitreichende Folgen auf den Club und die ganze Fußballbranche haben wird?

Wir haben uns schon vor dem letzten Spieltag mit Zuschauern, das war der 7. März, intensiv mit diesem Thema befasst. Die folgende Spielabsage in Fürth und die Aussetzung des Spielbetriebs kamen dann nicht mehr unerwartet. Uns war frühzeitig klar, dass wir mit der Problematik über das Jahr 2020 hinaus beschäftigt sein werden. Bereits im März haben wir erste Prognosen aufgestellt, die leider in der Folgezeit auch so eingetreten sind, und begonnen, mögliche Maßnahmen hinsichtlich ihrer Umsetzbarkeit zu prüfen.

Wie sind Sie innerhalb des HSV in den ersten Tagen, Wochen und Monaten mit dieser Situation umgegangen?

Uns ging es zunächst und in allererster Linie um den Gesundheitsschutz aller unserer Mitarbeiter und danach um die Aufrechterhaltung des Geschäftsbetriebs. Diese Grundsätze gelten nach wie vor.

Wir haben uns in der ersten Phase zunächst in einem täglich tagenden, digitalen Krisenstab getroffen, um uns wirklich ein zutreffendes Bild von der Entwicklung zu machen und in enger Abstimmung mit den relevanten Abteilungen im HSV adhoc-Entscheidungen zu treffen. Nach einigen Tagen hat unserer Direktor Organisation & Infrastruktur Daniel Nolte dann von mir die Leitung des Krisenstabs übernommen und führt das Gremium bis heute fort. Nach einigen Wochen haben wir die Abstimmungsintervalle verändert und tagen seither in der Regel wöchentlich. Die Pandemiebewältigung in all ihren Facetten ist mittlerweile leider zum Routineprozess geworden. Bei der Prüfung einzelner Maßnahmen haben wir in einem großen Team zusammengearbeitet, in dem die Kolleginnen und Kollegen die Aufgaben wirklich großartig gelöst haben. Stellvertretend unsere Leiterin Personal Daniela Schumacher, unser Justiziar Dr. Philipp Winter insbesondere für die arbeitsrechtlichen Fragen, Dr. Eric Huwer für die Identifizierung von finanziellen Maßnahmen und Potenzialen, unser Leiter Teammanagement Lennart Coerdt und unser Mannschaftarzt Dr. Götz Welsch für die Implementierung des Hygienekonzepts, die Verantwortlichen im Nachwuchs und in der Kommunikationsabteilung oder unserer IT und nicht zuletzt auch die Mitglieder des Betriebsrats, wirklich alle haben dazu beigetragen, dass wir die enormen Herausforderungen beherrschbar gemacht haben. Und sicher habe ich einige Kolleginnen und Kollegen jetzt vergessen, aber die ganze Organisation hat die Herausforderung angenommen und geholfen, um dieser Krise Herr zu werden. Das ist uns gemeinschaftlich gelungen. Die wahre Leistungsfähigkeit einer Organisation zeigt sich in solchen Sondersituationen.

Welche Herangehensweise verkörpern Sie persönlich, um solche Herausforderungen zu bewältigen? 

Solche Herausforderungen wie die Corona-Pandemie mit ihrer eigenen Dynamik sind nicht planbar, dafür gibt es auch keine Musterlösungen. Ich bemühe mich die Dinge sowohl vom Anfang als auch vom Ende zu denken. Wo stehen wir, wo müssen wir hin und wie lässt sich die Aufgabe schrittweise lösen. Welche Entscheidungen müssen direkt getroffen werden, welche später? Wie sind die Verantwortlichkeiten aufzuteilen, wer kümmert sich um was? Und wie machen wir die Informationen für alle zugänglich und Entscheidungen transparent? Zunächst geht es immer darum, einem unsicheren Zustand eine erste Stabilität zu geben. In solchen neu auftretenden Fragen ist es unwahrscheinlich wichtig, sich das relevante Wissen in ausreichendem Maße anzueignen und dies am besten durch mehrere Personen und in einem ständigen Austausch. Zeit ist insbesondere in solchen Phasen ein knappes Gut. Daher gilt es, frühzeitig Spezialisten einzubinden und Aufgaben zu delegieren und zu priorisieren.

Gibt es angesichts der hohen Verantwortung in diesem Zuge auch mal schlaflose Nächte?

Zum Glück nicht. Wenn ich mal nachts nicht schlafen kann, dann beschäftige ich mich eher mit Ideen und Lösungen als mit Problemen. Dann kann es auch passieren, dass ich die Dinge noch nachts beginne abzuarbeiten und morgens zum Dienstbeginn meinen Kollegen präsentiere. Die hohe Verantwortung empfinde ich als Ehre und Anreiz, nicht als Belastung.

Der deutsche Fußball hat gleich zu Beginn der Corona-Pandemie mit einem vielfach gelobten Hygienekonzept eine Vorreiterrolle im Profisport eingenommen und dadurch zeitnah eine Wiederaufnahme des Spielbetriebs ermöglicht. Zugleich entbrannte eine Diskussion über die Sonderrolle des Fußballs und eine generelle Entfernung der Branche gegenüber der Gesellschaft. Wie haben Sie diesen Diskurs erlebt?

Fußball hat eine hohe gesellschaftliche Relevanz. Fast jede und jeder hat eine Meinung dazu und kennt den Bundestrainer oder den amtierenden deutschen Meister. Hierdurch hat der Fußball eine Sonderrolle, nicht durch ein Hygienekonzept. Dass der deutsche Profi-Fußball dann gezeigt hat, dass man mit einem gut durchdachten Hygienekonzept frühzeitig wieder den Spielbetrieb aufnehmen kann, macht ihn zum Vorreiter für andere Sportarten oder gesellschaftliche Bereiche. Nach meiner Überzeugung hat der Fußball hier seine Sonderrolle zum Wohle der Gesellschaft eingebracht und ein Stück Normalität frühzeitig zurückgebracht. Klar ist dann aber auch, dass hierzu wieder jede und jeder eine Meinung hat und einige von Entfernung oder Entfremdung sprechen. Ich frage mich, welche andere Sportart hier diese Vorreiterrolle hätte einnehmen können.

Der Fußball, wie wir ihn kennen und lieben, ist seitdem nicht vollständig zurückgekehrt. Stattdessen gibt es Spiele vor leeren Rängen und sinkende Einschaltquoten am TV. Inwiefern nehmen Sie diesbezüglich eventuell auch eine Entemotionalisierung wahr?

Ohne Frage, Fußball ohne Zuschauer ist kein akzeptabler Zustand. Nicht für Sportler, nicht für Fans und nicht für TV-Konsumenten oder für Verantwortliche. Emotionen auf den Rängen gehören zum Spiel dazu und machen dies so besonders. Leider ist die Alternative zu Spielen ohne Zuschauer nicht Spiele mit Zuschauern, sondern keine Spiele. Und Letzteres würde sicher noch mehr entemotionalisieren. Wir müssen daher alle durch diese Phase, leider.

Wie groß ist die Gefahr, dass der Fußball dadurch langfristig an Attraktivität verliert? Provokant gefragt: Wie viele Geisterspiele sind den Fans auf Dauer zumutbar? 

Spiele mit nur wenigen Zuschauern oder Geisterspiele finden unter dem Aspekt des Gesundheitsschutzes der Bevölkerung statt. Sie tragen dazu bei, dass nicht noch weitere Infektionsherde, von denen wir mehr als genug haben, entstehen. Wir müssen diesen Weg mitgehen, unser Gesundheitssystem braucht keine zusätzlich Infizierten. Es ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, die Herausforderungen beherrschbar zu machen. Andere Sportarten wie alle kulturellen Veranstaltungen finden derzeit gar nicht statt. Daher sollten wir alle, sobald es möglich und für jeden verantwortbar ist, wieder Kinos, Theater und Restaurants besuchen, zum Basketball, Handball oder Eishockey gehen und uns an die Erlebnisse in den Fußballstadien erinnern. Für uns alle, nicht nur für den Fußball und seine Fans, ist die gegenwärtige Situation nicht zumutbar, insbesondere aber auch nicht für all die Unternehmer, Selbständigen, Künstler und Angestellten in den stark betroffenen Branchen und erst recht nicht für die Beschäftigten in den Heil- und Pflegeberufen, die Älteren und Vorerkrankten.

Wie könnten Sie sich das neue Normal vorstellen? Fußballspiele mit Abstand, Maske und eine teil- und schrittweise Zulassung von Fans im Stadion?

Von einer teil- und schrittweisen Rückkehr von Zuschauern sollten wir ausgehen, das Coronavirus wird ja nicht über Nacht verschwinden. In dieser Zeit wird sicherlich die eine oder andere zusätzliche Maßnahme, sei es das Maskengebot oder besondere Abstandsvorkehrungen, Bestand haben. Das neue Normal tritt aber erst dann ans Licht, wenn die Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung der Vergangenheit angehören. Ich glaube, dass auch aus Freiwilligkeit so manche neue Erscheinung von Dauer sein kann. Die Abstandsgebote sind in unseren Köpfen fest verankert. Daher erwarte ich schon, dass Menschenansammlungen nicht für jeden sofort eine annehmbare Einladung darstellen. Gleiches gilt für das Tragen von Masken, was wir bisher ja nur dem asiatischen Raum zugeordnet haben. Daran werden wir uns aber gewöhnen, genauso wie an den Umstand, weniger Hände zu schütteln.

Apropos Fans: Wie verfolgen Sie als Finanzexperte eigentlich als Zuschauer ein HSV-Spiel? Sind Sie wie ein echter Fan mit Leib und Seele dabei oder haben Sie während einer Partie eher auch wirtschaftliche Aspekte im Hinterkopf? 

Wirtschaftliche Überlegungen finden während eines Spiels nicht statt. Dann bin ich auch HSV-Fan mit üblichen Reaktionen je nach Spielverlauf. Das ist auch nicht immer filmreif, wenngleich ich um Beherrschung bemüht bin. Ganz selten muss ich mich während des Spiels mit organisatorischen Dingen beschäftigen, wenn abseits des Spielfelds besondere Situationen auftreten. Aber das ist die Ausnahme, auch hier haben unsere Stadion- und Organisationsverantwortlichen die Prozesse fest in der Hand.

Wie verhält es sich abseits des HSV-Kosmos’? Konsumieren Sie viel Fußball, schalten Sie beispielsweise unter der Woche auch mal bei der Champions League rein? Oder kicken Sie gar selbst?

Meine eigene Karriere, wahrlich keine bedeutende, war mit einer unkontrollierten Grätsche – meiner einzigen –  im Alter von 25 Jahren beendet. Bis dahin habe ich mit Leidenschaft und meinen Freunden für unseren Heimatverein in der Kreisklasse gekickt, dem ich auch heute noch sehr verbunden bin. In der Jugend habe ich ein bisschen höher gespielt und bin auch auf Gegenspieler wie Carsten Jancker oder Pablo Thiam getroffen, die später zu fußballerischem Ruhm gelangt sind. Heute bin ich nur noch Zuschauer, wobei ich aus gegebenem Anlass mehr die 2. Bundesliga als andere Wettbewerbe sehe. Wenn ich Champions League schaue, dann erledige ich meist andere Dinge parallel zum Spiel.

Vor rund einem Monat haben Sie den Bericht für das Geschäftsjahr 2019/20 veröffentlicht. Sie haben in diesem Zuge gesagt, dass der HSV bis zu Beginn der Pandemie dem Ziel einer nachhaltigen schwarzen Null sehr nahe war, letztlich lag der Jahresfehlbetrag aufgrund der Corona-bedingten Einbußen aber bei 6,7 Millionen Euro. Wie zufrieden sind Sie vor diesem Hintergrund mit dem Abschluss?

Ein Jahresabschluss ist die Zusammenfassung der geschäftlichen Aktivitäten einer Saison. Es sind nicht die Zahlen, die schlecht sein können, sondern es ist in diesen Fällen der Geschäftsverlauf. Mit dem verpassten Aufstieg ist niemand zufrieden und die Unzufriedenheit wäre auch nicht weniger, wenn das Jahresergebnis besser ausgefallen wäre. Es ist auch nicht mein Anspruch, Bilanzierungsentscheidungen zu treffen und Bewertungswahlrechte oder Gestaltungsmaßnahmen auszuüben, nur damit andere, bessere Zahlen kommuniziert werden können. Wir veröffentlichen in jeder Saison frühzeitig den vollständigen Jahresabschluss und unseren Lagebericht auf hsv.de, ohne dass wir hierzu verpflichtet sind. So schaffen wir Transparenz, die weder gesetzlich vorgeschrieben noch von vielen Clubs gelebt wird. Jeder Interessierte kann sich auf diesem Weg sein eigenes Bild über den Geschäftsverlauf machen und ist nicht auf meine Einschätzung angewiesen.

Gut leben kann ich allerdings damit, dass uns drei Jahre 2. Bundesliga und mehr als ein halbes Jahr Spiele ohne Zuschauer nicht den Boden unter den Füßen weggerissen haben, wie es viele prognostiziert haben und es möglicherweise in früheren Zeiten der Fall gewesen wäre.

Ein Sprichwort besagt, dass in jeder Krise bekanntlich auch eine Chance steckt. Inwieweit konnten und können Sie der Corona-Pandemie privat wie beruflich oder auf die Fußball-Branche allgemein bezogen etwas Positives abgewinnen? Oder halten Sie ein solches Denkmuster für Augenwischerei?

Ich hätte auf das Virus und seine Folgen und die damit verbundenen Erfahrungen gerne verzichtet. Allein der gesamtgesellschaftliche Konsens hinsichtlich der notwendigen Maßnahmen und die große Mehrheit in der Bevölkerung, die die Einschränkungen entsprechend akzeptieren, empfinde ich als positiv. Uns und den folgenden Generationen wünsche ich jedoch, dass es kein vergleichbares Phänomen mehr geben wird.

Wie nachhaltig wird die Corona-Pandemie den HSV und den Fußball allgemein finanziell auch in den kommenden Jahren beeinflussen?

Der Staat, die Wirtschaft und wir Steuerzahler werden über viele Jahre mit den Folgen zu kämpfen haben. Rettungspakete, Steuer- und Einnahmeausfälle müssen in der Folge kompensiert werden. Das gilt auch für den professionellen Fußball, der von staatlichen Rettungsschirmen ausgeschlossen ist. Wir kämpfen um den Erhalt vieler Arbeitsplätze beim HSV, aber auch bei Dienstleistern und im Umfeld. Unser Kerngeschäft sind nun einmal unsere Heimspiele mit Zuschauern. Und wenn die Zuschauer fehlen, wir andererseits aber Verträge einhalten wollen und müssen, weil wir auch in Zukunft als verlässlicher Vertragspartner wahrgenommen werden wollen, dann müssen wir in der jetzigen Phase Liquidität von außen zuführen und diese zukünftig wieder zurückzahlen. Dieses Phänomen betrifft viele Branchen und den gesamten Ligasport. Hinzu kommen aber auch die reduzierten Erlöserwartungen aus der ligaweiten TV-Vermarktung, die uns in den folgenden vier Jahren beeinflussen. Zumindest mittelfristig wird es im Fußball kein Wachstum geben, die Frage ist, wie stark uns der Abschwung trifft.

In diesem Zusammenhang ist immer wieder von möglichen Kapitalerhöhungen die Rede. Wie stehen Sie diesen gegenüber?

Die Fragen zu weiteren Kapitalerhöhungen und Anteilsverkäufen sowie die mediale Berichterstattung hierüber nehmen seit Ausbruch der Corona-Pandemie spürbar zu. Offensichtlich werden solche Maßnahmen als naheliegende Lösung zur Bewältigung der finanziellen Herausforderungen eingestuft. Allein in zeitlicher Hinsicht halte ich eine solche Eignung für ausgeschlossen, denn nur durch eine Ermächtigung zu weiteren Kapitalerhöhungen fließen noch keine Mittel in einen Klub. Investoren stehen im gesamten Profifußball in diesen Zeiten nicht wartend in einer Schlange vor den Stadien. Es gab zwar in der Zeit nach dem Abstieg ein konkretes Angebot eines ausländischen Investors, aber in diesem Fall hätte ich mir nicht vorstellen können, dass die Zusammenarbeit zu einer nachhaltigen Entwicklung des HSV positiv eingewirkt hätte. Die Frage zur Einbindung weiterer Gesellschafter wird intern in den Gremien und insbesondere zwischen Gesellschaftern seit dem Beschluss der Mitgliederversammlung zur Festschreibung der 24,9%-Grenze in der AG-Satzung und damit weit vor dem Ausbruch der Pandemie diskutiert. Da bin ich gar nicht entscheidend involviert und ich muss es auch nicht, denn solche Entscheidungen obliegen ausschließlich den Gesellschaftern. Allerdings habe ich vor fast zwei Jahren die Frage nach der für den HSV geeigneten Rechtsform in die Diskussion eingebracht, ohne auch hierzu nach einer ersten Erörterungsphase im intensiven Dialog zu stehen. Für mich stehen diese beiden Themen dennoch in unmittelbarem Zusammenhang, genauso wie die Frage, welche Erwartungen an neue Gesellschafter gestellt werden. Wie ich den HSV kennengelernt habe, halte ich es für ausgeschlossen, dass die HSV Fußball AG ohne Vorgaben der Mitgliederversammlung frei über die Auswahl neuer Gesellschafter entscheiden kann. Auf Dauer wird sich der HSV dieser Diskussion jedoch nicht entziehen können, ohne im Wettbewerb abgehängt zu werden. Der Anteil der eigenkapitalfinanzierten oder konzerngesteuerten Clubs nimmt zukünftig eher zu, aber keinesfalls ab.

Welche Bedeutung hat Eigenkapital für einen Club?

Eine solide Eigenkapitalbasis verhindert weder die sportliche Leistung einer Fußballmannschaft noch die strategische Entwicklung eines Unternehmens unabhängig von der Branche, erhöht aber zumindest die Robustheit, wie es sich gerade in der derzeitigen Krise zeigt. Und wenn die weitere Eigenkapitalaufnahme von den Gesellschaftern nicht gewollt ist, dann müssen entweder strategische Pläne geändert oder finanzielle Mittel anderweitig beschafft werden. Das ist dann die Aufgabe des Vorstands, nicht aber der Beschluss über Kapitalerhöhungen. Man kann hier nicht die Verantwortlichkeiten verschieben, nur weil es opportun ist.

Wie wichtig ist im Hinblick auf die wirtschaftliche Stabilität des Clubs die Rückkehr in die Bundesliga?

Die Frage zeigt genau die Problematik, nach der einige Klubs und auch der HSV in der Vergangenheit agiert haben. Man setzt alles auf die sportliche Karte, und wenn die gezogen wird, sind die Probleme gelöst. Wenn nicht, dann kommen neue Präsidien, Vorstände und Sportdirektoren in die Verantwortung und müssen mit einer noch schlechteren Ausgangslage umgehen. So wenig wie der sportliche Erfolg prognostizierbar ist, sind im Übrigen auch Transfererlöse planbar. Wir müssen daher bei allen unseren Entscheidungen immer berücksichtigen, dass in den kommenden Saisons auch mal sportliche Ziele nicht erreicht werden. Und wenn dann doch mehr Erfolg eintritt als unterstellt, werden sich genügend Möglichkeiten zur Mittelverwendung ergeben.

Sie werden in der öffentlichen Wahrnehmung meistens auf den Titel „Finanzvorstand“ beschränkt. Dabei sind mit Personal, Organisation/Infrastruktur und Marke/Business Relations sowie Fankultur weitere Bereiche in Ihrer Linie. Wie nehmen Sie dort die Entwicklungen wahr? Und wie viel Zeit bleibt Ihnen für alles außerhalb des Finanzthemas?

Die Auflistung der Funktionen und Geschäftsbereiche in der Fragestellung zeigt die Komplexität eines Fußballklubs im Allgemeinen und die des HSV im Besonderen. Neben den Aufgaben rund um die organisatorische und finanzielle Bewältigung der Pandemie stehen in der jüngsten Vergangenheit viele rechtliche Fragen auf der Agenda wie z.B. zu Datenschutz oder Compliance. Daneben bin ich für strategische Projekte wie das Athleticum am Volkspark, die Modernisierung des Stadions oder die Neugestaltung unserer Webshops verantwortlich. Auch bei unserer HSV-Stiftung Der Hamburger Weg gehöre ich dem Stiftungsvorstand an. Ein Fußballclub lässt sich nicht auf die Bereiche Sport und Finanzen beschränken. Als Vorstand tragen Jonas Boldt und ich die Gesamtverantwortung für den HSV. Wir beide binden unsere Führungskräfte auf Direktoren- und Bereichsleiterebene in alle wesentlichen Entscheidungen in den jeweiligen Bereichen mit ein. In der Außendarstellung lasse ich auch gerne Direktoren, beispielsweise Cornelius Göbel für Fankultur, den Vortritt, genauso wie unser Sportdirektor Michael Mutzel dies für den Sport übernimmt. Fußball bleibt ein Mannschaftssport, der nie abhängig von Einzelnen sein sollte. Dabei sind auch Positionsbezeichnungen und Titel egal. Die Bezeichnung Finanzvorstand ist inhaltlich stark verkürzt, aber eindeutig in der Abgrenzung zu Sport.

Abschließend: Als Sie vor sechs Jahren beim HSV angetreten sind, haben Sie im Hinblick auf hohe Verbindlichkeiten gesagt: „Die Situation scheint nicht unlösbar. Wir müssen allerdings Geduld und Zeit mitbringen“. Wie fällt Ihr Fazit und Ausblick heute aus? 

Wir spielen im dritten Jahr in der 2. Bundesliga und seit mehr als einem halben Jahr ohne Zuschauer. Dieses Szenario gepaart mit der finanziellen Ausgangslage im Jahr 2014 hätte mir große Sorgen bereitet, ich hätte diese Aussage mit Sicherheit nicht getroffen, wahrscheinlich wäre ich dann auch nicht als Rheinländer nach Hamburg gegangen. Trotz dieser Extreme steht der HSV auf einem soliden Fundament, das wir weiter festigen wollen. Es kann daher nicht alles falsch gewesen sein, was in den vergangenen sechs Jahren gemacht wurde.