Im HSVlive-Interview zieht Kapitän TIM LEIBOLD nach einem erfolgreichen Saisonstart ein erstes Zwischenfazit und spricht dabei unter anderem über die taktische Variabilität, weitere Entwicklungsprozesse und den besonderen Spirit innerhalb der Mannschaft.

Nach einer starken Vorsaison, in der er als Neuzugang mit 16 Assists und 3.060 Spielminuten zum Top-Vorlagengeber und Dauerbrenner der 2. Liga avancierte, greift Linksverteidiger Tim Leibold in dieser Spielzeit beim HSV in einer neuen Rolle an. So wurde der 26-Jährige von Trainer Daniel Thioune zum neuen HSV-Kapitän ernannt und übernahm, flankiert von seinen Co-Kapitänen Toni Leistner und Klaus Gjasula, das Steuerrad von Vorgänger Aaron Hunt. Bisher hat Captain „Leibe“ den HSV-Tanker mit Ausnahme eines Schusses vor den Bug im DFB-Pokal nicht nur zielstrebig aus dem Hafen manövriert, sondern auch ungeschlagen auf Kurs gehalten, so dass nach sieben Zweitliga-Spielen 17 von 21 möglichen Punkten im Logbuch vermerkt sind. Verantwortlich für diesen guten Start zeichnen der neue Kompass des Trainers, die damit verbundene vielseitige Navigation im Hinblick auf das eigene Spiel sowie ein gewachsener Zusammenhalt an Bord, wie Schiffsführer Tim Leibold im großen HSVlive-Interview verrät.

Tim, sieben Zweitliga-Spieltage und damit der Saisonstart liegen hinter uns: Wie fällt dein erstes Zwischenfazit aus?

In meinen Augen war es ein sehr ordentlicher Saisonstart. Es gab viele Dinge, die relativ schnell ineinandergegriffen haben. Allen voran das Zusammenspiel zwischen Trainerteam und Mannschaft. Das hat sehr gut funktioniert. Wir haben durch das Pokal-Spiel in Dresden nochmal einen Hallo-wach-Effekt erlebt und gesehen, woran es noch fehlt. Ähnlich war es zuletzt beim Spiel in Kiel, wo es weitere Punkte gab, die wir noch verbessern können und müssen. Vieles ist noch nicht bei 100 Prozent, aber das ist zu diesem frühen Zeitpunkt der Saison normal. Für den Trainer und uns als Mannschaft ist es ein fortlaufender Prozess, sich vollständig kennenzulernen. Dafür haben wir die ersten sieben Spiele schon richtig gut gemeistert.

Der Trainer hat nach dem 1:1-Remis in Kiel von eben diesem wichtigen Entwicklungsprozess gesprochen, während in der Bewertung von außen erste kritische Stimmen laut wurden. Wie hast du den Auftritt bewertet?

Wenn wir in Kiel einen Konter sauber zu Ende spielen, dann steht es 2:0 und alle sprechen davon, dass wir eine Top-Mannschaft haben, die hinten nichts zulässt, vorn den Deckel draufmacht und mit drei Punkten im Sack nach Hause fährt. Stattdessen kann der Schuss nach hinten losgehen, wenn die Feinabstimmungen auf dem Platz noch nicht zu 100 Prozent stimmen. Das hat man natürlich gesehen, denn ansonsten hätten wir den Kielern das zweite und dritte Tor eingeschenkt und den Ofen ausgemacht. Doch so eine Top-Mannschaft, wie es in der Bundesliga zum Beispiel der FC Bayern München ist, ist der HSV in der 2. Liga noch nicht. Das ist zu diesem Zeitpunkt für uns als Mannschaft aber auch nicht schlimm, weil wir genau sehen, an welchen Stellen es noch hapert. Dann fällt es immer leichter, den Finger in die Wunde zu legen und weiterzuarbeiten.

In Kiel hat ein spätes Gegentor in der Nachspielzeit für den Ausgleich gesorgt, so dass sich viele Beobachter an die Schlussphase der Vorsaison erinnert gefühlt haben. Hat das in irgendeiner Weise eine Rolle gespielt?

Nein, ich hatte in Kiel zu keinem Zeitpunkt das Gefühl und den Eindruck, dass wir ein Gegentor kassieren könnten. Wir standen äußerst kompakt und haben kaum Torchancen zugelassen. Das war vielmehr eine positive Entwicklung im Vergleich zur Vorsaison. Am Ende kann immer mal ein Ball durchrutschen. Das meinte ich mit den Feinheiten. In dieser Saison arbeiten wir mit vielen Umstellungen innerhalb des Teams und des Spiels, was uns als Mannschaft guttut. Wir wissen, dass wir viele Spieler in der Hinterhand haben, die sich aufdrängen und ihren Part spielen.

Als neuer Kapitän nimmst du in dieser Mannschaft eine neue Rolle ein. Inwieweit ist das eine besondere Verantwortung für dich?

Für mich ist das der nächste Schritt und auch ein wichtiger Automatismus für den Trainer. Er kannte zu Beginn ja keinen von uns Spielern und umgekehrt kannten wir ihn und sein Trainerteam nicht. Ich glaube, diesbezüglich war es für ihn wichtig, dass er nicht nur mit mir, sondern auch den anderen erfahrenen Jungs schnell jemanden gefunden hat, mit dem er unter vier Augen auch mal ehrlich sprechen und sich im Detail austauschen kann. Diese Aufgabe habe ich und da bin ich auch froh drüber, weil ich zu allen Jungs einen wirklich guten Draht habe.

Musst du in diese Rolle auch noch hineinwachsen oder steckt dieses Gen schon automatisch in dir drin?

Ich denke, von beidem etwas. Menschlich ist es keine große Umstellung, da ich mit den Jungs auch schon in der letzten Saison richtig gut ausgekommen bin. Gleichzeitig hatte ich noch nie die Situation in meiner Karriere, dass ich Kapitän eines Vereins war und dementsprechend muss man den Umgang zwischen Kapitän, Mannschaftsrat, Trainerteam und Kabine auch etwas neu kennenlernen. Das funktioniert nicht von heute auf morgen und ist auch für mich ein Lernprozess. Alle Beteiligten werden in dieser Situation auch mal Fehler machen – das ist doch ganz normal und gehört dazu.

Du hast bereits die Veränderungen innerhalb der Spielanlage angesprochen. Taktisch agiert ihr in dieser Saison variabler, verfügt über mehrere Spielsysteme und stellt diese auch mal innerhalb eines Spiels um. Wie nimmst du diese Entwicklung wahr und wo stecken Vor- und Nachteile dieses Ansatzes im Vergleich zu einem gewohnten System? 

Wenn du dich in einem festen System als Spieler wohlfühlst, dann ist das sicherlich schön und gibt für das Wochenende ein Stück weit Sicherheit. Nichtsdestotrotz ist es auch ein gutes Gefühl, wenn man noch andere Systeme in der Hinterhand hat und weiß, dass man sowohl taktisch als auch personell nochmal wechseln kann. Dann ist es auch für den Gegner schwer auszurechnen, wie der HSV auftritt. Dieser Aspekt ist der Qualität unseres Kaders zu verdanken. Natürlich möchte jeder Spieler immer spielen, aber wenn der Trainer das erkennt und auch immer vielen Spielern die Chance gibt, weil er weiß, dass er ihnen vertrauen kann, dann hebt das uns als Mannschaft nochmal auf ein anderes Level. Für jeden Spieler, der mal hinten dranstand oder hinten dransteht, ist es nochmal ein anderes Gefühl. Denn er weiß, dass er bereits im nächsten Spiel, das vielleicht in einem anderen System angegangen wird, wieder gebraucht werden kann. 

Benötigt man als Spieler und Mannschaft denn auch mal einen Moment, um sich in das neue System hineinzufinden? Oder ist das schon so verfestigt, dass es auf Knopfdruck funktioniert?

Natürlich benötigt es Automatismen und diese kommen nur über das Training. Ich glaube, am Anfang haben wir als Spieler eine große Überfrachtung erlebt, weil der Trainer so viele Systeme und Variablen eingefordert hat. Natürlich war das für uns neu, denn jeder Trainer bringt seinen eigenen Stempel mit. Es war sein Aufgabengebiet, uns gezielt klarzumachen, was er von uns will. Am Anfang ist das eine Umstellung, aber jeder Sieg und auch jeder Punkt, den wir in verschiedenen Aufstellungen und Systemen einfahren, festigt das Gesamtsystem und gibt großes Vertrauen zwischen dem Trainerteam und der Mannschaft. 

Was sind weitere Veränderungen, die du neben der taktischen Flexibilität im Vergleich zur Vorsaison innerhalb der Mannschaft wahrnimmst?

Ich würde vor allen Dingen
das Klima innerhalb der Mannschaft hervorheben. Das war zwar auch in der Vorsaison schon gut, fühlt sich in diesem Jahr aber einfach noch intensiver an. Die Stimmung war seit Tag 1 gut – auch nach dem Dresden-Spiel. Natürlich waren wir kurz geknickt, aber den Fokus darauf, was wir in diesem Jahr erreichen wollen, haben wir bisher an keinem Tag verloren. So treten wir auch jeden Tag im Training auf.

Jeremy Dudziak hat uns im Sommer-Trainingslager verraten, dass besonders zwischen ihm, Sonny Kittel und dir eine gefestigte Gemeinschaft entstanden ist. Als ihr euch zum ersten Training der neuen Saison wiedergesehen habt, hätte sofort eine Jetzt-erst-recht-Mentalität geherrscht. Wie hast du das wahrgenommen?

Ich habe das genauso empfunden und das ist etwas sehr Spezielles. Joshua Kimmich hat nach dem gewonnenen Champions-League-Finale gesagt, dass er das Gefühl hat, mit Brüdern auf dem Platz zu stehen. Und genau dieses Gefühl macht einfach einen Unterschied. Wenn du mit Freunden auf dem Platz stehst, dann machst du vielleicht noch einmal einen Meter mehr. So eine Freundschaft entwickelt sich aber nicht von heute auf morgen, sondern benötigt Zeit. Es sind wirklich viele feine Jungs im Team und dieser Zusammenhalt wächst nicht nur innerhalb der Kabine, sondern auch außerhalb und gibt uns letztlich Vertrauen und Zusammenhalt auf dem Feld.

Stichwort Zusammenhalt: Wie sehr fehlt euch auf dem Feld aktuell der Zusammenhalt mit den Fans, das gewohnte Drumherum, diese besondere Atmosphäre eines Fußballspiels, die seit Beginn der Corona-Pandemie weitestgehend eingeschränkt ist?

Die fehlt enorm, das steht völlig außer Frage. Besonders in einem vollen Stadion, wie wir es haben, in dem die Hütte brennt, wenn es voll ist. Natürlich hat jede Situation ihre Vor- und Nachteile. Wenn wir zum Beispiel wie im Heimspiel gegen Würzburg mit einem 0:1 in die Halbzeit gehen, dann gibt es zum Gang in die Pause von der einen oder anderen Tribüne auch mal ein Pfeifkonzert mit auf den Weg und dann schlottern dir vielleicht anschließend zum Start in die zweite Hälfte mal ein bisschen die Knie. In Kiel hätten uns die HSV-Fans hingegen vielleicht zum 2:0 gepeitscht. Das ist alles hypothetisch und schwierig zu sagen, aber Fakt ist, dass die Fans und Zuschauer enorm fehlen. Gerade auch die mit ihnen verbundene Emotionalität in einem Spiel. Die Partien haben zwar keinen Freundschaftsspiel­charakter, das ist klar, aber es ist einfach komisch, wenn du in ein großes Stadion einläufst und mit Ausnahme einiger Medienvertreter niemand da ist. Das ist schon gespenstisch. Ich glaube, dass die Rückkehr von keinen oder zumindest sehr wenigen Fans zu einem vollen Stadion für uns Spieler enorm sein wird. Plötzlich wieder vor 50.000 Zuschauern zu spielen – da ist die Anspannung einfach nochmal eine ganz, ganz andere. Danach lechzen wir Fußballfans alle, auch wenn es in den Sternen steht, wann das wieder der Fall sein wird.

War es deshalb zuletzt auch eine bewusste Entscheidung, dass ihr nach dem Stadtderby vor die leere Nord­tribüne gegangen seid und euch symbolisch für den Support bedankt habt?

Ja, genau. Wir wollten damit bewusst als ganze Mannschaft, als HSV einz Zeichen setzen und haben uns gesagt, dass wir unabhängig vom Ausgang dieses Spiels vor die leere Nord gehen und als Zeichen der Anerkennung applaudieren. Wir wissen, dass die Fans vor den Bildschirmen, Radios und Live-Tickern mit uns mitfiebern und mitzittern. Leider ist der direkte Umgang mit ihnen derzeit nicht möglich, aber wir bekommen ja nicht zuletzt durch die digitalen Medien sehr viel mit. Zumindest dort findet dann auch der eine oder andere kommunikative Austausch statt.

Abschließend: Zuletzt hattet ihr im Rahmen der Länderspielperiode eine längere Spielpause. Genau das passende Zeitfenster, um weiter an den Feinheiten des Spiels zu feilen oder bleibt man als Spieler lieber mit vielen Partien im Flow?

Beides hat seine Vorteile. Auf der einen Seite kann man nach den vielen Spielen in kurzer Zeit mal seine Wehwehchen vernünftig auskurieren und andererseits gibt es immer Spieler, die gerade in einem guten Rhythmus sind und diesen nicht verlieren wollen. Da wäre es nicht verkehrt gewesen, direkt wieder zu spielen. Für uns wird es jetzt gerade im Hinblick auf die kommenden Wochen wichtig sein, dass wir weiter an den Stellschrauben drehen. Wir müssen diesen Killerinstinkt entwickeln, weil wir einfach der HSV sind und nicht irgendeine Mannschaft, die im Niemands­land herumdümpelt, sondern wir stehen oben und wollen uns dort auch dauerhaft festsetzen. Wenn wir diesen Killerinstinkt entwickeln, dann machen wir in Kiel auch das 2:0 oder 3:0 und sorgen dafür, dass auch die Kontrahenten sehen, dass wir einen Gegner nicht mehr zu Chancen kommen lassen. Das ist der HSV, den wir alle sehen wollen, und daran arbeiten wir.