Im HSVlive-Interview spricht CORNELIUS GÖBEL, Direktor Fankultur, über die Rück­kehr der Zuschauer in die Stadien, die Bindung zwischen Anhänger­schaft und Verein während der Corona-Pan­demie und die gegen­wärtige Erwartungs­haltung der Anhänger­schaft gegen­über der HSV-Mann­schaft.

Cornelius, nach langem Warten kehren die Zuschauer und Fans mehr und mehr zurück in die Stadien. Beim jüngsten Heim­spiel gegen Düssel­dorf waren es bereits 38.954 und damit fast so viele wie beim letzten Heim­spiel vor den Corona-Ein­schrän­kungen im März 2020. Wie sehr habt ihr diesem großen Schritt zurück zur Normalität entgegengefiebert?  

Für mich persönlich gibt es da zwei unter­schiedliche Perspek­tiven. Als Mit­arbeiter wurden wir langsam an dieses Spiel heran­geführt, da wir zuvor schon einige Heim­spiele unter 3G-Voraus­setzungen erlebt haben, auch wenn diese natürlich ganz anders waren. Wenn ich die Perspektive der Zuschauer einnehme, dann war mein Gefühl, dass es eine sehr große Euphorie und Vor­freude gab, jetzt wieder einen – in Anführungs­strichen – normalen Stadion­besuch zu erleben. Denn die Spiele davor waren einfach anders: Man musste eine Maske tragen, konnte kein Bier mit­einander trinken und musste sich sofort auf seinen Platz setzen – das alles waren schwierige Voraus­setzungen, die jetzt durch die 2G-Beding­ungen erst­mals wegfielen. Es gibt nicht nur in unserer Anhänger­schaft, sondern darüber hinaus auch in weiten Teilen der Gesell­schaft ein hohes Bedürfnis nach Begeg­nungen und einem positiven Los­lassen. Dafür sind ein Heim­spiel und die damit verbun­denen Erinnerungen an die Vor-Corona-Zeit eine gute Kombination. 

Während der Corona-Pandemie wurde der Spielbe­trieb in den vergangenen anderthalb Jahren bekannt­lich weitest­gehend ohne oder nur mit einem überschau­baren Teil an Zuschauern fortgesetzt. Wie habt ihr diese Zeit erlebt?  

Grund­sätzlich muss man sagen, dass die Leben­digkeit der Fan­kultur in den Stadien gefehlt hat. Zudem gab es die Erkennt­nis, dass der Fußball – besonders in der Hoch­phase von Corona – in dieser Zeit nicht mehr so im Mittel­punkt unserer Gesell­schaft stand, wie wir das gewohnt waren. Für uns als Fan­kultur hat sich das in einer besonderen Art und Weise gezeigt: Wir waren es eigentlich wie selbst­verständlich gewohnt, dass die Leute mit ihren Anliegen und Bedürf­nissen immer zu uns kommen, doch das hat sich gedreht. In der Hoch­phase von Corona mussten wir ganz aktiv auf unsere Anhänger zugehen und neue Formate entwickeln, um nicht den Kontakt zu unseren An­hängern zu verlieren. Das haben wir gern gemacht, war für uns aber erst einmal auch unge­wohnt. 

Cornelius Göbel ist seit 2014 beim HSV aktiv und seit Januar 2021 in seiner jetzigen Funktion als Direktor Fan­kultur tätig. 

Inwie­weit konntet ihr in dieser Phase eine Distanzierung und Entemotio­nalisierung vom Fußball im Allge­meinen und dem HSV im Speziellen seitens der Fans wahr­nehmen? 

Die Distanzierung vom Profi­fußball im Allge­meinen hat schon vor der Corona-Zeit ange­fangen. Der Fußball wurde nicht zuletzt durch die vermehrte Kommer­zialisierung und Debatten rund um eine Super League sehr kritisch beäugt. Die Pande­mie hat dann noch einmal sehr stark als ein Brand­beschleu­niger fungiert. Zugleich hat die Krise aber auch dazu geführt, dass sich die Anhänger­schaften sehr kritisch mit ihren Bezugs­vereinen aus­einander­gesetzt haben. Das hat im besten Fall auch wieder zu einer stärkeren Bindung geführt, die wir auch beim HSV beob­achtet haben. So haben sich zum Bei­spiel die Initiative „Unser HSV“ ebenso wie 45 neue HSV-Fanclubs gegründet – und das wohlge­merkt in einer Zeit, in der man die ganzen Vor­teile eines Fan­clubs gar nicht in An­spruch nehmen konnte. Mein Gefühl ist, dass die Leute weiterhin Bock auf diesen geilen Verein haben.    

Wie ist es euch gelungen, diese Verbin­dung zwischen Fans und Club auch ohne das Stadion­erlebnis auf­recht zu erhalten? 

Wir mussten in dieser Zeit sehr kreativ sein und uns damit aus­einander­setzen, wie wir die Bindung zwischen An­hänger­schaft und Verein auch ohne die klassischen Kontakt­punkte hochhalten können. Das ist uns mit einer Vielzahl an Aktionen grund­sätzlich gut gelungen, unter anderem mit der Soli-Shirt-Aktion, unter­schied­lichen Maß­nahmen zur Stadion­gestaltung, dem Ver­schicken von Sitz­schalen an Fan­clubs, einer erhöhten Kommuni­kation sowie vielen digitalen Maß­nahmen, wie unter anderem dem Volks­park­festival. Das waren alles Punkte, die im Hin­blick auf die Bindung einen Mehr­wert hatten. 

Hat die Corona-Pandemie in dieser Hin­sicht also trotz der Spiele ohne Zu­schauer auch für positive Ent­wick­lungen gesorgt?  

Es war auf jeden Fall erkenn­bar, wie sehr es den Menschen in Deutschland um das Drum­herum eines Fuß­ball­clubs geht. Es geht nicht nur um den sport­lichen Erfolg, um das vermeint­lich Kern­produkt auf dem Rasen, sondern um die Gesamt­entwick­lung eines Clubs. Fußball­fans sind dies­bezüg­lich viel kritischer als sie es vielleicht noch in den 90er- und den frühen 2000er-Jahren waren und blicken sehr genau auf Themen wie Nach­haltig­keit oder gesell­schaftliche Verant­wortung. Diesbe­züglich haben wir uns beim HSV erfolg­reich entwickelt und machen weiterhin richtig gute Schritte. Wir haben verstanden, dass wir uns nicht mehr aus­schließ­lich über den sportlichen Erfolg definieren können. Viel­mehr haben wir noch mehr erkannt, dass unsere An­hänger­schaft und unsere Mit­glieder ein sehr hohes Gut sind und dass wir diese Menschen immer wieder in unsere Prozesse einbinden wollen.      

Durch die Rück­kehr der Zuschauer ist ein großer Schritt in Richtung Normalität gegangen worden – nicht nur in Deutsch­land und im Fuß­ball, sondern auch weltweit und sport­art­über­greifend. Dabei ist es überall immer wieder auch zu un­schönen Szenen auf den Rängen gekommen. Wie sind diese in euren Augen erklär­bar?

Wir haben in den letzten Tagen viel darüber nach­gedacht und versucht, Erklärungs­grund­sätze dafür zu finden. Dabei ist uns aufge­fallen, dass die zu Beginn ange­sprochene Vorfreude auf den Stadion­besuch noch immer auch mit einem gewissen Corona-Frust einher­geht. Es gibt eine viel­fältige und total indivi­duelle Problem­lage aus der pande­mischen Zeit: Menschen haben ihren Job verloren, waren phasen­weise zu Hause – man kann das schon so drastisch aus­drücken – einge­sperrt, viele hatten durch Kurzar­beit finan­zielle Probleme. Dabei gab es auch eine gewisse Ent­wöhnung, mit massen­psycho­logischen Ent­hemmungs­effekten in der Corona-Zeit umzugehen. Es ist zu beob­achten, dass all diese Faktoren im Allge­meinen zu einer gewissen Ver­rohung in unserer Gesell­schaft geführt haben.

Auch beim jüngsten Heim­spiel des HSV ist es zu inak­zeptablem Verhalten einzel­ner Zuschauer gekommen. Inwie­weit war das vor dem Hinter­grund der genannten Vorkomm­nisse vielleicht sogar ein Stück weit erwart­bar? Und wie schafft man es, das Verhalten wieder in geregelte Bahnen zu lenken? 

Es ist in jedem Fall nicht überraschend, dass solche Situationen an so vielen Stand­orten passieren, denn wie gesagt: Ähnliche Vorfälle gab es zuletzt in vielen Stadien in Europa. Die außer­ge­wöhn­liche Zeit hat das soziale Mit­einander verändert. Wenn man diese Verän­derung schon im gesell­schaftlichen Kontext fest­stellt, dann findet sie im Stadion nochmal verschärft statt. Denn hier treffen Menschen sehr schnell und sehr geballt auf­einander. Für uns ist es in diesem Kontext wichtig, unsere Ab­läufe im Stadion konse­quent umzusetzen. Wir wollen Täter und Täter­innen ermitteln und dann auch sanktionieren. Dafür sind wir vollum­fänglich handlungs­fähig und wissen, was wir zu tun haben. Zudem müssen wir in Zukunft wieder versuchen, die Melde­ketten, die wir haben, in geordnete Abläufe zu bekommen. Es muss wieder geläufig werden, dass es beim HSV die Möglich­keit gibt, ein Fehlver­halten beim Ordnungs­dienst, dem Team Anker­platz und den Fanbe­auftragten sofort zu melden und anzu­sprechen. Dann wird, wenn von den Betroffenen gewünscht, ent­sprechend einge­schritten und dagegen vorge­gangen. Mir ist aber auch wichtig zu betonen, wie sehr sich das Thema Haltung in den letzten Jahren ent­wickelt hat und Werte wie Zusammen­halt, Solidarität und Antidis­kriminierung klar sicht­bar sind. 

Beim Heim­spiel gegen Düssel­dorf ist es auch zu rassis­tischen Äußer­ungen gekommen, die man sicher­lich ein Stück weit differen­ziert von der allge­meinen Stimmung rund um die Fan-Rückkehr sehen muss. Umso wichtiger war ein klares Zeichen, das der HSV hier gesetzt hat. 

Richtig. Wir haben in den letzten Jahren sehr klar und sehr deutlich immer wieder gesagt und gezeigt, dass Rassismus und Fremden­feind­lichkeit beim HSV überhaupt keinen Platz haben. Wir haben vor einiger Zeit dafür auch einen Anti­dis­kriminierungs­para­grafen in unserer Vereins­satzung eingeführt, um handlungs­fähig zu sein und ge­geben­enfalls Mit­glieder auszu­schließen. Es ist ein stetiger und permanenter Kampf gegen den Rassis­mus, den wir in jedem Fall führen.    

Du hast gesagt, dass der HSV so viel mehr ist als das, was auf dem Platz passiert. Dennoch bildet die Profi­mann­schaft einen ent­scheidenden Faktor. Wie nimmst du dies­be­züglich aktuell die Erwar­tungs­haltung seitens der Fans gegen­über einer sehr jungen und ent­wicklungs­fähigen Mann­schaft wahr?  

Es ist schwierig, über die eine gemein­same Erwartungs­haltung zu sprechen, denn die gibt es so nicht. Aber wenn ich es etwas general­isierend be­schreiben würde, dann kann ich sagen, dass es in der An­hänger­schaft einen großen Wunsch nach Konti­nuität gibt. Man wünscht sich junge, hungrige Spieler, die sich mit diesem Verein identi­fizieren und Bock haben, den HSV in die Liga zu tragen, in die dieser Verein auch gehört. Dies­be­züglich sind wir auf einem sehr guten Weg. In meinen Augen gibt es auch über­haupt nicht die Er­wartungs­haltung, dass der Verein sofort wieder auf­steigen muss. Es ist ein Entwicklungs­prozess, den wir alle unter­stützen müssen. Es können sich ganz, ganz viele Menschen mit jungen Spielern und offen­sivem, mutigem Fuß­ball identi­fizieren und haben auch Lust, diesen Weg positiv zu be­gleiten.   

Wie wichtig ist in diesem Kontext das Thema Geduld?

Wir sind inner­halb des Vereins und auch in der Anhänger­schaft total klar in der An­nahme, was wir wollen: Konti­nuität, Ent­wicklung und lang­fristige Verbes­serung in den Struk­turen. In den vergangenen Jahren gab es immer wieder die Situation, dass wir aus irgend­einem Grund nicht kongruent zu­einander waren. Sowohl innerhalb des Vereins als auch inner­halb der An­hänger­schaft gab es bei sportlichen Rück­schlägen die Rufe danach, dass etwas passieren muss. Diese Gemen­gelage ist gefährlich und bedingt sich toxisch gegen­einander. Wir müssen in unserem Gesamt­bilde resilien­ter werden und den Teufels­kreis der Unge­duld durch­schlagen. Wenn wir das schaffen, dann kann etwas richtig Gutes ent­stehen.     

Nun gab es nach dem 1:1 gegen Düssel­dorf Pfiffe im Volks­park­stadion. HSV-Sport­direktor Michael Mutzel bezeichnete diese „als zu hart“ im Hinblick auf die junge, noch ent­wicklungs­fähige Mann­schaft. Wie nimmst du so etwas wahr?

Die Er­wartungs­haltung an einem Spiel­tag und die an ein lang­fristiges Ziel muss man immer von­einander trennen und unter­scheiden. Das steht manchmal in einem Wider­spruch und verleitet zu Fehl­inter­preta­tionen. Der Zuschauer ist in so einem Moment zu 100 Prozent emotional und betrachtet die Lage weniger differenziert. In der Sache selbst bin ich aber weniger diplo­matisch einge­stellt: Aus meiner Sicht sind Pfiffe während des Spiels nicht förder­lich, weil sie niemals leistungs­fördernd wirken. Wir sind alle HSVerinnen und HSVer und es gehört sich einfach nicht, unsere Mann­schaft auszu­pfeifen. Es gibt immer wieder Tendenzen im Fuß­ball, dass so etwas passiert, und man kann nach einem Spiel auch durchaus mal seinen Unmut äußern, aber während eines Spiels insbe­sondere auf junge Spieler einen so negativen Ein­fluss zu nehmen, ist unsäg­lich.

Wie kann man diesem Verhalten einzelner Zuschauer entgegen­wirken und welche Rolle spielt dabei auch die aktive Fans­zene?  

Die aktive Fan­szene ist noch nicht komplett wieder im Stadion vertreten und dabei sowohl akus­tisch als auch visuell nicht koordiniert. Sie ist im Hinblick auf unseren Weg der Entwicklung und das gemeinsame Wachsen ein sehr wichtiges Regulativ, das in den vergang­enen Jahren bei Grenz­über­schreitungen während eines Spiels entscheidend dagegen­gewirkt hat. Das betrifft den Spiel­verlauf und das Stadion­erleb­nis als Ganzes. Wir hoffen sehr, dass die aktive Fans­zene möglichst bald wieder im Stadion anzu­treffen ist. Sie hat immer betont, dass sie erst wieder zurück­kehrt, wenn die Situation rund um das Stadion­erlebnis wie vor der Corona-Pandemie ist. Wir haben noch immer perso­nalisierte Tickets und schließen durch die 2G-Regelung Gruppen aus. Das sind Gründe, die eine komplette Rück­kehr verhindern und diese Haltung finde ich durchaus respektabel. Dabei haben die Leute richtig Bock, wieder zu supporten und das Ding hier wieder groß und besonders zu machen. Wir müssen daher Rück­sicht zeigen und versuchen, einen Weg zu finden, um hier wieder vereint im Stadion auf­treten zu können.