Nur der HSV

Mit zehn Jahren trat Uwe Seeler auf den Paul-Hauen­schild-Plätzen in Norder­stedt erstmals für den HSV gegen den Ball, avancierte als 17-Jähriger am Rothen­baum zum auf­gehenden Stern, mit 35 wurde ihm in seinem Volkspark­stadion mit einem Abschiedsspiel gehuldigt, seinen 80. Geburts­­tag feierte Uwe hier mit 57.000 Menschen und an gleicher Stelle wurde seine Statue zur Trauer­pilger­stätte und fand am 10. August 2022 die große Trauer­feier zu seinen Ehren statt. „Uns Uwe“ – ein Leben für und mit dem HSV.

Uwe Seeler ist HSV. Und der HSV ist Uwe Seeler. Es ist eine Verbindung, wie es sie nur höchst­selten gibt, denn den HSV bekam der kleine Uwe schon in die Wiege gelegt. Sein Vater Erwin, von allen nur liebe­voll „Vadder“ oder später auch „Old Erwin“ genannt, war eine Ikone des Arbeiter­fuß­balls, spielte später in den 30er- und 40er-Jahren für den HSV erst­klassig und war eine absolute Hamburger Fuß­ball­größe. Uwe wuchs damit auf, wurde damit groß. Und wurde ein Teil davon. Ganz selbst­ver­ständlich und natürlich. So schleppte Uwe, der lütte Butscher, für die Mannschaft seines Vaters die Kisten und Kübel, half hier mit, unterstütze dort. Und reifte im Laufe der Jahre ganz nebenbei und an der Seite seines Bruders und späteren Mann­schafts­kameraden Dieter zum besten und erfolg­reichsten Kicker der berühm­ten Seeler-Familie. Mutter Anni wusste dies damals schon. Zumin­dest ahnte sie es. Als sie einst bei einem Jugend­spiel ihres älteren Sohnes Dieter auf dessen ja sicher­lich vom Vadder Erwin geerbtes Talent ange­sprochen wurde, sagte sie: „Ich habe davon noch einen zu Hause, den sollten Sie mal sehen. Der ist der kleinste, aber der wird mal größer als alle anderen.“ Und auch Erwin war sich sicher: „Dat ward mol een ganz Groten!“ 

„Old Erwin“ meldete seinen Sohn am 1. April 1946 beim HSV an. Mit der Mit­glieds­nummer 1725 rannte und rackerte der kleine Uwe nun also im Nach­wuchs des HSV, unter dem damaligen großen Jugend­förderer Günter Mahl­mann. „Der hatte alles im Griff“, erinnerte sich Uwe Seeler stets gern, „uns Jungs, die Eltern, die Jugend­arbeit. Herrn Mahl­mann haben wir alles zu verdanken.“ Im Not­fall gab’s auch mal was auf die Hörner, wenn der Uwe mal wieder lieber mit den Kumpels auf der Straße kicken wollte, anstatt mit dem Fahrrad von Eppen­dorf nach Norder­stedt zum HSV-Training zu radeln. „Hat mir nicht geschadet“, sagte Uwe später über diese Zeit, in der er sein erstes fuß­balle­risches Wohn­zimmer kennen­lernte. Auf der Paul-Hauen­schild-Sportanlage in Norder­stedt verbrachte er große Teile seiner Jugend. „Es gab zehn Rasen­plätze, die Bedingungen waren einfach hervor­ragend“, dachte Uwe stets mit Freude zurück, „ich hatte ja vorher noch meine Fall­rück­zieher auf den Straßen Eppendorfs und den Trümmer­grund­stücken gemacht.“ In Ochsen­zoll, wie die Sportanlage des HSV in Norder­stedt genannt wurde und auch heute noch genannt wird, lernte Uwe auch seine beim HSV als Torfrau Hand­ball spielende Ilka kennen und baute nach der Hoch­zeit im Jahre 1959 mit ihr direkt an den Trainings­plätzen das Haus, das bis heute das Zuhause der Familie Seeler ist und in dem die drei Töchter Frauke, Kerstin und Helle auf­wuchsen. 

Uwe Seeler und seine drei Wohnzimmer: Als junger Butscher auf der Paul-Hauenschild-Sportanlage in Norderstedt (links), später als bester HSVer auf dem Rothenbaum-Sportplatz (Mitte) und anschließend im Volksparkstadion (rechts), wo …

Zu der Zeit eroberte ihr Papa sein zweites Wohnzimmer im Sturm: den Hamburger Rothenbaum. Vadder Erwin spielte hier bereits, Uwe schaute vom Spielfeldrand zu, und sollte nun mit nur 17 Jahren und dank einer Sondergenehmigung in dessen Fußstapfen treten und sein erstes Pflichtspiel für die Ligamannschaft bestreiten. Es wurde eine Demonstration, denn gegen den Nordrivalen Holstein Kiel erzielte der junge Uwe direkt einen Viererpack. Vier Tore im ersten Herrenspiel in Deutschlands höchster Spielklasse – dieser wunderbare Kerl war ein Wunderknabe! Uwe Seeler war nun endgültig ganz oben beim HSV angekommen und feierte in seinem Rothenbaum-Wohnzimmer Erfolg um Erfolg – genau wie ab 1963 im Volksparkstadion, das die Rothosen auch schon zuvor für ihre Endrunden-Spiele um die Deutsche Meisterschaft oder internationale Auftritte genutzt hatten und in das der HSV im Zuge der Bundesliga-Einführung endgültig umzog. Es wurde Uwe Seelers drittes Wohnzimmer, in dem er endgültig zu einem weltweit gefeierten Fußballhelden wurde. Erster Bundesliga-Torschützenkönig, erster Fußballer des Jahres, kurzum: Uwe Seeler wurde der erste Superstar der neugegründeten Fußball-Bundesliga. Zu diesem Zeitpunkt war „Uns Uwe“ bei den Anhängern des HSV und auch bei allen Fußball-Fans deutschlandweit bereits der ganz große Liebling, was seinen Ursprung bereits zwei Jahre zuvor hatte, als der italienische Superclub Inter Mailand heftigst und finanzstark um Uwe warb, dieser sich aber für den Verbleib in Hamburg und beim HSV entschied. 

Uwe Seeler blieb Hamburger und HSVer und seinem Verein treu. Einmal HSV, immer HSV. Nur der HSV! Obwohl, so ganz stimmt das nicht. Denn es gab 1978 ein kleines und in dieser Form nicht gewolltes Gastspiel bei einem anderen Club. Seeler war zu diesem Zeitpunkt bereits 42 Jahre alt und seit sechs Jahren Fußballrentner, nachdem ihn ‘72 zu seinem legendären Abschiedsspiel in seinem Volksparkstadion die weltgrößten Fußballer besucht hatten: Franz Beckenbauer, Gerd Müller, Eusebio, Gordon Banks, Bobby Moore, Bobby Charlton, George Best und 62.000 Zuschauer verabschiedeten ihren Uwe, „Uns Uwe“, der sich fortan auf seine Aufgabe bei Adidas konzentrierte. In diesem Zuge bat man Seeler anno 1978, ein Benefizspiel in Irland zu spielen, für den Cork Celtic FC, Gegner war der zehnmalige Meister Shamrock Rovers. Seeler sagte zu, zumal auch sein ehemaliger Mitspieler und damaliger Adidas-Arbeitskollege Franz-Josef „Bubi“ Hönig dabei war und es ja vermeintlich für die gute Sache sein sollte. Doch als das Spiel am 23. April 1978 angepfiffen wurde, ging es gleich richtig zur Sache – es gab auf die Socken, und zwar nicht zu knapp, und so dämmerte es Seeler, dass hier wohl eine Verwechslung vorlag, wie sich später bestätigte. Denn Uwe, der Ur-HSVer, der nie für einen anderen Verein hatte spielen wollen, machte da bei keinem Benefizspiel mit, das hier war Abstiegskampf, das hier war die erste irische Liga. „Ich war ziemlich überrascht“, erinnerte Uwe sich später, „ich wusste ja nicht, dass ich mit einer Gastspielgenehmigung dabei war, sowas gab es damals in Irland.“ Und so machte Uwe Seeler tatsächlich im Alter von 42 Jahren und ohne sein Wissen oder Zutun ein Pflichtspiel für einen anderen Club als den HSV.

… Uwe Seeler auch seinen 80. Geburts­tag feierte (oben) – und wo dem größten HSVer aller Zeiten eine Statue gebaut (Mitte) und ihm mit einer eigenen Trauer­feier gedacht wurde (unten).

Und weil er nun schon mal mittendrin war, machte er es dann eben auch richtig. Und erzielte zwei Tore. Den anschließenden Avancen von der Insel, ihn fest für Cork verpflichten zu wollen, widerstand Seeler selbstverständlich, vielmehr notierte er das große Interesse an seinen Diensten mit einem Lächeln und der schönen Erkenntnis: Der alte Mann konnte es also noch immer. 

Fortan konzentrierte Seeler sich wieder auf seinen Adidas-Job. Und auf seinen HSV natürlich, diese Liebe ließ ihn nie los. Und machte ihn mitunter auch blind. Nur so konnte sich Uwe Seeler später erklären, dass er sich 1995 gegen den Rat seiner Frau und gegen sein eigenes Gefühl überreden ließ, das Amt des HSV-Präsidenten auszufüllen. Dieser Job, das war er nicht, das war nicht Uwe. Eigentlich war es ihm schon vorher klar, aber hey – es ging um seinen HSV. Doch das mulmige Gefühl bestätigte sich, es passte einfach nicht. Und dennoch bleibt hängen, dass Uwe Seeler mit seinen Mitstreitern in einer für den Verein extrem schwierigen Zeit eines der wichtigsten HSV-Projekte auf den Weg gebracht, angeschubst und vorangetrieben hat: den Stadionneubau. Im neuen Volksparkstadion, das ab 1998 zu dem Stadion umgebaut wurde, das wir heute kennen, schaute Uwe Seeler bis zum Ende so viele Heimspiele wie möglich und beging hier auch – umringt von 57.000 Fans – im ausverkauften Volkspark seinen 80. Geburtstag. Und so schloss sich irgendwie auch der Kreis, als am 10. August 2022 in seinem Stadion, einem seiner drei Wohnzimmer, die offizielle Trauerfeier der Stadt Hamburg zu seinen Ehren stattfand. Denn für Uwe Seeler gab es immer nur den HSV.