Für einen Klönschnack war Uwe Seeler immer zu haben. Sei es mit den Menschen auf der Straße, mit HSV-Fans im Volksparkstadion oder auch ab und an mit Journalisten. Einem von ihnen gab Seeler sein letztes großes HSVlive-Interview, nämlich seinem jahrzehntelangen Begleiter und Freund Dieter Matz, der ihn 2016 als Gast-Autor für die „80 Jahre Uwe Seeler“-Sonderausgabe des HSVlive-Magazins interviewte. In diesem Gespräch ging es um Uwes Kindheit und Jugend, seine Zeit als HSV-Ikone und Nationalspieler sowie schlicht und ergreifend ums Leben. Auszüge aus diesem Gespräch greifen wir an dieser Stelle noch einmal auf – und stellen uns dazu Uwes Stimme und sein schelmisches Grinsen vor.
Uwe, du bist als Sohn eines berühmten Fußballers aufgewachsen. Inwieweit hat dein Vater damals auf dich eingewirkt, damit du ebenfalls Fußballer wirst?
Mein Vater hat mich nie dazu gedrängt. Dazu musste mich niemand drängen, denn seitdem ich laufen kann, spiele ich Fußball oder jage dem Ball hinterher. Genauso war es bei meinem fünf Jahre älteren Bruder Dieter. Ich bin ihm einfach immer hinterhergelaufen, insofern kam das von selbst. Nur war es damals eine ganz schlechte Zeit, die Kriegszeit. Wir haben uns in den Trümmern unsere Fußballplätze gebaut oder auf Kopfsteinpflaster in den Straßen gespielt. Vor allem gab es damals ja auch keine vernünftigen Bälle. Die haben wir uns selbst gebastelt, das waren mehr Ostereier als Fußbälle. Aber wir hatten etwas zum Gegentreten – das hat uns Spaß gemacht. Und wie heißt es so treffend: Was es nicht gibt, vermisst man auch nicht.
Herbert Kühl, ein damaliger Nachbarsjunge von dir, hat mal erzählt, dass manchmal auch ein Tennisball ausreichte.
Klar, das ging auch mal mit einem kleinen Tennisball. Damit haben wir dann stundenlang von Bordsteinkante zu Bordsteinkante gespielt. Das kann sich ja heute gar keiner mehr vorstellen, aber die Bälle hatten wirklich alle verschiedene Größen und Formen. Solange wir aber damit spielen konnten, war uns alles andere egal. Das ging so weit, dass ich komplett die Zeit auf der Straße vergessen habe. Wenn der Ball rollte, war ich immer dabei – egal wo! Das geschah übrigens sehr zur Freude meiner Eltern, denn wenn ich abends heimkehrte, war ich immer der größte Drecksspatz und meine Mutter hatte große Mühe, mich wieder sauber zu kriegen …
Dein Vater war damals – wie bereits angesprochen – in Hamburg eine echte Fußballgröße. Wie hast du das wahrgenommen?
Ich habe meinen Vater bei seinen Spielen immer begleitet und dann ganz genau beobachtet. Er war ein ziemlich harter Hund und ein guter Fußballer. Deswegen hat er meinen Bruder und mich auch mal auf einen Stuhl gesetzt und uns eine Ansage gemacht. Er sagte: „Damit ihr beiden Bescheid wisst: Weicheier will ich hier zu Hause nicht haben! Wenn ihr mal eine Verletzung habt, dann packt einen nassen Lappen drauf und dann geht‘s weiter.“ Das hat echt gesessen.
Gab es von dieser Art der Ansagen noch mehr?
Ja, mir bleibt ebenso gut der Satz im Gedächtnis: „Geld ist nicht alles.“ Mein Vater war Ewerführer im Hafen und wir wussten, dass er gerade in der Nachkriegszeit extrem viele Schichten hatte, sehr hart gearbeitet und trotzdem Fußball gespielt hat. Er hat nie gejammert. Also war für uns klar: Wir dürfen auch nicht jammern.
1938: Uwe Seeler auf dem Arm seines Vaters Erwin.
Du hast die besonderen Umstände in der Nachkriegszeit angesprochen. Diesen hast du auch den Zuruf „Flötenheini“ zu verdanken. Kläre uns darüber doch bitte mal auf.
Ach ja, das ist eine nette Anekdote. In der Nachkriegszeit war das Licht natürlich sehr begrenzt. Wir haben in der dritten Etage gewohnt, im Treppenhaus war es immer dunkel und unheimlich, davor hatte ich tatsächlich Schiss. Ich habe nach dem Klingeln dann immer nach oben gerufen, ob meine Eltern da sind, und dann bin ich pfeifend nach oben gelaufen, damit da ein Ton war. Es war echt unheimlich, im Dunkeln in den dritten Stock zu laufen, aber vielleicht bin ich dadurch auch so schnell geworden. (lacht)
Du warst ein frühreifer Fußballer, hast mit 16 Jahren dein erstes Testspiel für den HSV gemacht und mit 17 Jahren das erste Länderspiel unter Bundestrainer Sepp Herberger. Wie war dein Verhältnis zu ihm?
Jeder hatte großen Respekt vor ihm. Er war eine absolute Größe, und was er gesagt hat, wurde so gemacht. Er war eine Respektperson und wenn er angerufen hat, dann war ich sehr aufgeregt. Nur: Bei ihm dauerte es auch etwas länger, bis man seine Chance bekam. Er hat viel angerufen – ich glaube, kein Bundestrainer hat so viele Telefonate geführt wie Herberger. Aber auf das Wichtigste – die Einladung zum Spiel – musste man warten. Zum Abschluss des Telefonats hat er nur häufig gesagt: „Machen Sie weiter so. Sie sind auf dem richtigen Weg.“
1954 hast du in Hannover beim 1:3 gegen Frankreich für Deutschland debütiert. 1968, also 14 Jahre nach deinem Debüt, hast du in der Nationalmannschaft aufgehört, bist dann aber kurze Zeit später reaktiviert worden. Wie ist es zu diesem Comeback gekommen?
Ich hatte mit dem Rücken sehr viel Probleme und habe aufgrund der Doppelbelastung in der Nationalmannschaft aufgehört. Doch mit der Zeit und den Behandlungen ist es wieder besser geworden und auch dem zu der Zeit zuständige Bundestrainer Helmut Schön ist das nicht entgangen. Er hat mich dann kontaktiert und gefragt, ob die WM 1970 nicht interessant wäre für mich. Mit Gerd Müller vorne und mir dahinter im Angriff. Das fand ich nach all meinen tollen Erlebnissen mit der Nationalmannschaft natürlich nochmal sehr spannend, habe aber um eine Woche Bedenkzeit gebeten, weil ich deshalb bezüglich meiner Arbeit bei Adidas kürzertreten musste. Letztlich habe ich zugesagt, aber für mich war von Beginn an auch klar, dass ich nur noch diese eine WM spiele.
Während deiner Zeit als Nationalspieler hast du 1961 das legendäre Angebot von Inter Mailand abgelehnt und hast später oft gesagt, dass du damit alles richtig gemacht hast. Warum?
Ich hatte einen Beruf, eine gute Existenz mit der Generalvertretung von Adidas hier in Norddeutschland. Ich habe natürlich den schweren Weg gewählt, bin im Jahr um die 70.000 Kilometer gefahren und musste unterwegs trainieren, weil ich im Fußball nicht absacken wollte. Ich wollte im Verein, aber auch in der Nationalmannschaft in Form bleiben, und wenn man viel im Auto sitzt, muss man schon viel tun, um beweglich zu bleiben. Inter Mailand war 1961 natürlich das Nonplusultra und wollte mich unbedingt haben. Wir haben lange verhandelt und die Summe wurde immer größer, aber ich habe das Angebot ausgeschlagen.
Dein Trainer Günter Mahlmann hat damals gesagt, es sei zwar ganz allein deine Entscheidung, aber du solltest gut bedenken, dass dich alle Leute in Hamburg lieben.
Die Mannschaft wiederum hat gesagt, dass sie mich mit Blumen zum Flughafen bringen. Die wussten natürlich von den Summen und sagten, das könne ich gar nicht ausschlagen. (lacht) Aber am Ende waren sie sicherlich auch glücklich, als ich geblieben bin. Heute kann ich sagen: Wenn man im Nachhinein nichts bereut, dann hat man die richtige Entscheidung getroffen und alles richtig gemacht.
1961: Mit Bundestrainer Sepp Herberger erlebte und verband Uwe Seeler stets sehr viel.
Ist Günter Mahlmann der Trainer, dem du in deiner Karriere am meisten zu verdanken hast?
Ja, er ist der Trainer, der uns nach dem Krieg aufgebaut hat. Wir sind damals ja allesamt als Eigengewächse in die Liga aufgestiegen. Sowas ist heute ja gar nicht mehr vorstellbar. Günter Mahlmann wollte eigentlich nie Liga-Trainer werden, aber weil er uns groß gemacht hat, ist er diesen Schritt dann doch gegangen.
Dabei wurde ihm nachgesagt, dass er ein guter Pädagoge sei, aber nicht den höchsten Fußballsachverstand mitbringe. Wie beurteilst du das?
Er hat gewusst, was im Fußball wichtig ist und Erfolg bringt. Er musste gar nicht viel über Fußball und Taktik philosophieren, sondern hat mit seinen Ansagen gepunktet. Die haben innerhalb der Mannschaft immer gesessen und ohnehin hat er immer eine gute Gemeinschaft, eine echte Mannschaft aufgebaut. Wer nicht mitgezogen hat, der wurde sanktioniert. Aufgrund seiner Zeit als Studienrat hat er das auch in entsprechender Form getan. Er konnte sehr hart sein, aber auf seine Jungs, die er großgezogen hat, war er stolz.
Uwe, kommen wir wieder zu dir, und diese Nachfrage wirst du mir hoffentlich verzeihen: Ich persönlich habe dein Spiel lieben gelernt, dich auf Händen getragen, aber während des Spiels warst du teilweise auch ungenießbar, oder?
Ich bin auf dem Sportplatz ein völlig anderer Typ gewesen. Nicht wie sonst, so ganz ruhig und bescheiden, sondern sehr laut. Ich wollte gewinnen, war sehr ehrgeizig und habe auch viel gemeckert. Dann bin ich nach hinten gelaufen und habe gerufen: „Was spielt ihr denn hier für einen Mist?“
Nach dem Spiel wurden dir solche Sätze aber verziehen?
Logisch, meine Mitspieler kannten mich ja alle und wussten, wie ich normalerweise war. Aber im Spiel, wenn es um alles ging, dann wollte ich gewinnen. Und wenn einer nicht so mitzog, dann hat er eben etwas Dampf bekommen. In meinen Augen müssen doch in jeder guten Mannschaft zwei, drei solcher Spieler sein. Und wenn ich gemeckert habe, dann haben sie auch oft gesagt: „Geh nach vorne und schieß dein Tor, dann haben wir Ruhe.“ (lacht) Das war selbstverständlich, wir wollten als Mannschaft schließlich immer gewinnen, da durfte jeder seine Meinung sagen.
Dein großer Ehrgeiz ist bekannt. Du hast auch mehr trainiert als andere, obwohl es bei dir diesbezüglich etwas stockend anfing. In der Kindheit hast du auf das HSV-Training weniger Wert gelegt und hast lieber in der Straße gedaddelt.
In der Straße haben wir täglich gebolzt – Straße gegen Straße. Die Jungs dort brauchten mich, haben mir das Training mehr oder weniger ausgeredet. Dann hat mein Vater mir irgendwann folgenden Gruß von Günter Mahlmann bestellt: „Wenn dein Sohn meint, er müsse nicht zum Training kommen, dann braucht er auch nicht zum Spiel zu kommen.“ Ab diesem Zeitpunkt war ich grundsätzlich immer beim Training.
Du hast auch immer viele Sonderschichten beim Training eingelegt.
Ja, das stimmt. Kopfballpendel, Flankenspiel mit Charly, einfach alles. Das habe ich aus Spaß gemacht. Es war ja nie so, dass man mich zwingen musste, sondern ich hatte einfach den Willen, mehr zu erreichen. Günter Mahlmann musste mich ja manchmal vom Pendel wegholen. Für mich war es selbstverständlich, immer zu üben, auch bis tief in die Dunkelheit. Das ganze Leben ist üben. Wenn du dauernd übst, dann kannst du’s! Und ich war eben immer sehr ehrgeizig, ich wollte immer besser werden und immer gewinnen.
Trainingsweltmeister: Uwe Seeler beim Kopfballpendel und beim Torabschluss.
Dein Motto lautete ja: „Gewinnen wollen, verlieren können.“ Bist du nach Niederlagen zu Hause bei deinen vier Mädels aufgebaut worden?
Ja, aber erst einmal brauchte ich mindestens ein oder zwei Stunden für mich. Meine Frau hat den Kindern dann immer gesagt: „Seid nochmal ein bisschen ruhig, Papa braucht eine Stunde, dann könnt ihr wieder.“ Ich musste in diesen Momenten echt entspannen, aber danach war es auch wieder gut. Ich habe dann schnell an das nächste Spiel gedacht, die Niederlage verarbeitet und wieder auf das nächste Spiel geschaut.
In deiner langen Karriere hast du knapp 2.000 Tore geschossen. Welcher war dein wichtigster Treffer?
Für mich persönlich war das 2:1-Siegtor gegen Schweden in Stockholm bei der WM-Qualifikation 1965 am wichtigsten. Das war nach meinem Achillessehnenriss, der damals eigentlich für einen Sportler das Karriereaus bedeutete, und nach dem eigentlich niemand an meine Rückkehr geglaubt hat. Doch mit diesem Tor wusste ich, dass es weitergeht.
Und wie sieht es mit deinem schönsten Tor aus?
Ach, ich hatte schöne Fallrückzieher- oder Kopfballtore, zum Beispiel das 2:2 gegen England bei der WM in Mexiko mit dem Hinterkopf. Aber ich flachse ja immer, dass es mir egal ist, wie ich das Tor mache, Hauptsache, der Ball ist drin. Tor ist Tor!
1958 schießt Uwe Seeler das 1:0 gegen Holstein Kiel – und den HSV zur Meisterschaft in der Oberliga Nord.
Es war einer von vielen Triumphen, die Seeler und sein HSV gemeinsam mit den Fans feiern konnten.
Mit dem HSV wurdest du neunmal in Folge Oberligameister, die Bundesliga war 1963 dann aber eine Umstellung, und zum Ende deiner Karriere gab es auch Abstiegsgefahr.
Ja, es gab damals nach unseren sehr erfolgreichen Jahren eine neue, junge Mannschaft und man hat mich gebeten, noch ein Jahr dranzuhängen, aber das konnte ich nicht mehr. Das wäre auch verkehrt gewesen. Ich sage immer: Lieber ein Jahr eher als zu spät aufhören, bevor die anderen sagen, dass es Zeit wird, nach Hause zu gehen.
Deinen Rücktritt hast du mit 41 Jahren ja noch einmal unterbrochen und für den irischen Club Celtic Cork das Trikot übergestreift. Wie lief diese Geschichte ab?
Das war damals eine Einladung von Adidas. Der Vertreter auf der Insel hat mich gefragt, ob ich dort mal bei einem Spiel mitmachen kann, und da habe ich gesagt: „Na gut, das kann ich machen.“ Dass es sich dabei aber um ein Punktspiel handelte, habe ich erst nach dem Spiel erfahren. Das wusste ich wirklich nicht. Ich habe damals nur einen Fehler gemacht: Ich habe beim 2:6 beide Tore erzielt – und im Anschluss wollten sie mich kaufen. (lacht)
Wieso bist du nach deiner aktiven Karriere eigentlich nie Trainer gewesen?
Ich hatte meinen Beruf, das war mir wichtiger. Ich weiß auch gar nicht, ob ich ein guter Trainer geworden wäre. Ich bin vielleicht zu ehrgeizig und hätte zu viel von den Leuten verlangt. Wir hätten ja bei Sepp Herberger damals auf kürzerem Weg die Lizenz machen können, aber für mich kam das irgendwie nie, nie in Frage.
Im Gegensatz – um den Kreis unseres Gesprächs zu schließen – zu deinem Vater. Er war auch Trainer und galt sogar als besonders hart, oder?
Ja, er hat bei einigen Amateurvereinen trainiert. Da kann es gut sein, dass die Spieler bei ihm zu jeder Zeit strammstanden. Das haben wir Söhne ja schließlich auch gemacht. (lacht)