„Wenn ich heute in meiner Kartei blättere, dann fällt mir natürlich sofort immer ein dickes Paket in die Hände, und das ist die Akte von Uwe Seeler“, sagte der einstige HSV-Mannschaftsarzt Dr. Kurt Fischer einmal. Und in der Tat, die Krankenakte Seelers liest sich wie eine Enzyklopädie der Sporttraumatologie. Allein in den zehn Jahren zwischen 1961 und 1971 sind 65 Verletzungen dokumentiert: vom schmerzhaften Pferdekuss über Platzwunden, Zerrungen Muskelfaserrisse, Brüche und schon früh immer wieder starke Rückenprobleme durch chronisch ausgerenkte Wirbel. Achtmal wurde Seeler operiert, elf Operationsnarben sind davon zurückgeblieben.
Das „gute seeler’sche Heilfleisch“ und eine spezielle Einstellung ließen Uwe Seeler zu einem wahren Stehaufmännchen werden. Uwe war hart, überging Dinge, mit denen manch anderer sich hätte krankschreiben lassen. Gejammer gab es nicht – ein Erbe seines Vaters „Old Erwin“. Der alte Haudegen konnte Wehleidigkeit überhaupt nicht leiden, spielte selbst einmal trotz gebrochenen Wadenbeins eine Partie zu Ende. So lernte Uwe früh, zu „beißen“ und gegen Verletzungen anzugehen. Ein idealer Patient, mit dem Willen zur schnellen Heilung – auch nach seiner schlimmsten Verletzung, die er sich am 25. Februar 1965 im Frankfurter Waldstadion zuzog.
Auf dem hartgefrorenen Rasen streckte sich Uwe Seeler in einem scheinbar harmlosen Ausfallschritt nach dem Ball – es folgte ein Knall, den man noch auf den Zuschauerrängen hören konnte. Nach zuvor geschätzten 45.000 Sprüngen von zusammen mindestens 50 Kilometer Höhe riss die Achillessehne. Diese Diagnose bedeutet nach dem damaligen Stand der Operationstechnik das Karriereende. „Aus und vorbei“, das war auch Seelers erster Gedanke. Doch Dr. Kurt Fischer wagte die Operation, in einem viereinhalbstündigen chirurgischen Eingriff gelang ihm eine Meisterleistung: Er entnahm Sehnen aus dem Unterschenkel und verstärkte damit die gerissene Achillessehne.
Bereits kurz nach der Entlassung aus der Feldbrunnenklinik am Rothenbaum machte sich Uwe schon wieder an die Arbeit. Mit Gymnastik, Wassertreten, Hantelarbeit und Radfahren bereitete er sich auf seine Rückkehr auf die Fußballbühne vor. „Das war eine mächtige Quälerei, weil ich in der Ferse Entzündungen hatte. Damals habe ich zur Wundheilung alles gemacht, ich bin erst zur Ostsee, dann zur Nordsee, weil das Salzwasser heilt und Entzündungen rausholt. Mit dem Aufbau habe ich dann im Pool zu Hause angefangen – immer wieder den Fuß leicht abheben“, blickte Seeler später zurück auf sein kaum für möglich gehaltenes Comeback, das er für die deutsche Nationalelf am 26. September, nur unglaubliche sieben Monate nach der Verletzung, im Stockholmer Ullevi-Stadion gegen Schweden gab (Foto unten). Im entscheidenden WM-Qualifikationsspiel stand es 1:1, ehe in der 54. Minute eine Flanke von Grosser in die Mitte kam und Uwe Seeler zur Stelle war. Mit einem spagatgleichen Ausfallschritt beförderte der Rekonvaleszent, den viele schon abgeschrieben hatten, den Ball zum 2:1-Siegtreffer ins Netz. Es war nur eines von 43 Länderspieltoren, doch „mein wichtigstes überhaupt“, wie Seeler später rückblickend bekannte. Deutschland war bei der WM in England dabei – und das Stehaufmännchen Uwe Seeler war trotz der schwerwiegenden Verletzung einmal mehr gegen alle Widerstände zurückgekommen.