Fußball ohne Seeler? Tschüss Uwe? Eigentlich unvorstellbar. Und so wollte denn auch lange niemand so richtig wahrhaben, dass die einzigartige Laufbahn des Mittelstürmers irgendwann auch mal zur Zielgeraden wird. In dessen Heimat, rund um den Rothenbaum und den Volkspark, schon mal gar nicht. Aber auch im Rest der Republik, deren Auswahlmannschaft der Hamburger seit Jahren so vorbildlich anführte und repräsentierte, war dieser Gedanke nur schwer erträglich.
Abschied von der Nationalmannschaft am 9. September 1970 als hochdekorierter Rekordspieler (v.l.): Uwe Seeler an der Seite von Torwart Sepp Maier, Franz Beckenbauer, Klaus-Dieter Sieloff, Wolfgang Weber und Gerd Müller.
Abschied auf Raten ab Sommer 1968
Dennoch: Das unschöne Wort vom „Abschied“ machte erstmals bereits im Sommer 1968 die Runde. Im Vorfeld des Länderspiels gegen England in Hannover hatte DFB-Kapitän Seeler erklärt, von Bord zu gehen und seinen Dienst im Adlertrikot zu quittieren. Die sichtlich geschockte Verbandsspitze stellte daraufhin ein 60. und letztes Länderspiel für Seeler in Aussicht. Eine offizielle Verabschiedung in ganz großem Rahmen – „voraussichtlich in Hamburg“, wie Pressechef Dr. Wilfried Gerhardt erklärte: „Das sind wir diesem Mann einfach schuldig.“
Es kam bekanntlich alles ganz anders. Seeler erklärte seinen Rücktritt vom Rücktritt und stürmte an der Seite von Gerd Müller bei der WM 1970 in Mexiko, seiner vierten und, wie er selbst betont, „schönsten“, noch einmal fulminant für Deutschland. Unvergessliche „Jahrhundertspiele“: im Viertelfinale die Final-Revanche gegen England mit dem unnachahmlichen Hinterkopftor in der Gluthitze von Leon, das Halbfinal-Drama gegen Italien mit epischer Verlängerung vor 120.000 im Azteken-Stadion. „Uwe, Uwe!“ Noch einmal Fußballer des Jahres. Ein tolles Comeback. Und ein stimmiges Farewell dann am 9. September 1970 beim 3:1 gegen Ungarn. Zwar nicht „to hus“, aber doch feierlich und mit angemessen lautem Tusch, dem Bundesverdienstkreuz am Bande und als neuer Rekord-Nationalspieler in Nürnberg.
Abschied von der Bundesliga am 22. April 1972: Uwe Seeler (l.) gegen Stuttgarts Günther Eisele.
Für seinen HSV schnürte Uwe Seeler die Fußballstiefel noch knapp zwei Jahre länger. Seine neunte und vorab als „definitiv letzte“ etikettierte Bundesliga-Saison 1971/72 geriet zu einer wahren Abschiedstournee. Alle wollten den Hamburger Mittelstürmer noch ein letztes Mal live spielen sehen. Rote Erde, Alm, Wedau, Müngersdorf, Glückauf-Kampfbahn, Betzenberg, Ruhrstadion – kleine, umjubelte „Abschiedsspiele“ in Serie. Bei der Seitenwahl gab’s Blumensträuße und Geschenke. Dazu x-faches Posieren für Erinnerungsfotos mit Gegenspielern, Vereinsbossen und Schiedsrichtern. Lange vor Einzug der Selfie-Kultur wollten viele die Gelegenheit nutzen, sich mit dem Fußball-Idol auf einem Schnappschuss zu verewigen. Die Anpfiffe und Anstöße verzögerten sich nicht selten um mehrere Minuten.
Internationale, nationale und lokale Helden
Ende 1971 schließlich wurden auch die Planungen und Vorbereitungen für ein offizielles Abschiedsspiel immer konkreter. Schnell wurde dabei klar, dass diese für den 1. Mai 1972 terminierte Partie zu einem internationalen Promi-Auflauf werden würde, den die Fußballwelt bis dahin so noch nie gesehen hatte. Quasi wöchentlich vermeldete die Hamburger Presse Zusagen namhafter Stars und Wegbegleiter Seelers oder nährte fleißig Spekulationen über das Kommen weiterer Klasse-Kicker.
Abwehr-Ass Karl-Heinz Schnellinger, gemeinsam mit Seeler bei den vier Weltmeisterschaften von 1958 bis 1970 aktiv, und Mittelfeld-Regisseur Gianni Rivera, beide vom AC Mailand, kündigten Mitte Januar als Erste ihr Kommen an. Kurz darauf erklärten Gordon Banks, Bobby Moore, Geoff Hurst, Bobby Charlton, Tommy Gemmell und George Best, dass man für sie doch bitte auch Flugtickets von der britischen Insel nach Hamburg-Fuhlsbüttel fix buchen könne. Torwart Banks sagte stellvertretend für seine Kollegen: „Ich kenne viele überragende Spieler, aber der Uwe ist einer der größten. Ich betrachte es als eine große Ehre, zu seinem Abschiedsspiel eingeladen worden zu sein.“
Es folgten aus Südosteuropa Mittelstürmer Ferenc Bene (Ungarn) und Linksaußen Dragan Dzajic (Jugoslawien). Auch Europas amtierender Fußballer des Jahres Johan Cryuff sagte frühzeitig zu, und Brasiliens Superstar und Dreifach-Weltmeister Pelé schrieb Anfang März an die HSV-Geschäftsstelle: „Ich war oft in Hamburg. Und auch an dem Tag, an dem Uwe Seeler zum letzten Male in der Mannschaft steht, werde ich dabei sein!“ Doch sowohl Amsterdams als auch Santos‘ „König“ mussten letztlich wegen Verpflichtungen für ihre Clubs kurzfristig und „sehr schweren Herzens“ passen. Dafür verzeichnete die internationale Auswahl mit Eusébio buchstäblich in allerletzter Minute noch einen spektakulären Zugang. „Portugals Perle“ landete erst rund eine Stunde vorm Anpfiff in Hamburg, ließ sich ins Stadion chauffieren und funkelte in der zweiten Halbzeit im Sonnenlicht auf dem Rasen des Volksparkstadions.
Star-Spalier: Dieses Bild des Karikaturisten Oskar (bürgerlich: Hans Bierbrauer, bekannt als Schnellzeichner in Hans Rosenthals Fernsehshow „Dalli Dalli“) hängt gerahmt in Seelers Büro in Norderstedt.
Und der heimische Fußball-Hochadel? Auch er ließ sich nicht lange bitten. „Kaiser“ Franz Beckenbauer, Torschützen-König Gerd Müller und Strafraum-Regent Sepp Maier vom FC Bayern gaben sich die Ehre. Und das, obwohl alle drei erst wenige Stunden zuvor, am Abend des 29. April beim 3:1 über England im Viertelfinal-Hinspiel der Europameisterschaft in Wembley, an einer anderen legendären Sternstunde der deutschen Fußball-Historie mitgewirkt hatten. Bundestrainer Helmut Schön und DFB-Sportmasseur Erich Deuser jetteten ebenfalls von London nach Hamburg und übernahmen nur zu gern die Betreuung des Star-Ensembles.
Für reichlich Aufsehen sorgte zudem eine lokale Personalie. Gert „Charly“ Dörfel, Anfang Februar nach heftigem Gezank mit der Mannschafts- und Vereinsführung noch vom HSV beurlaubt worden, sollte auf ausdrücklichen Wunsch Seelers noch einmal im HSV-Trikot stürmen. Auch für den langjährige Stammlinksaußen wurde so das große Spiel zur Abschiedsvorstellung nach mehr als einem Jahrzehnt in der Liga-Mannschaft.
Und noch eine weitere Ära endete am 1. Mai im Volkspark. Die Spielleitung nämlich übernahm ein letztes Mal Horst Herden. Der 43-Jährige Unparteiische vom Hinschenfelder FC, der seit 1968 als Schiedsrichter 68 Bundesliga-Spiele gepfiffen hatte, wurde an den Seitenlinien assistiert von seinen nicht minder prominenten Hamburger Pfeifen-Kollegen Klaus Ohmsen (SC Urania) und Gerhard Schulenburg (Stern-Pfeil Dulsberg). Herden zeigte nicht nur Uwe Seeler, sondern auch sich selbst symbolisch und lächelnd die Rote Karte.
Abschiedsspieler (v.l.): Uwe Seeler mit HSV-Kamerad Charly Dörfel, Schiedsrichter Horst Herden und „Eskorteur“ Bobby Moore.
Run auf Tickets und Souvenirs
Dieses gesammelte und illustre „Who’s Who“ des Fußballs elektrisierte die Massen. Als Mitte April 1972 der Vorverkauf startete, registrierte das Hamburger Abendblatt „einen Ansturm auf die Tickets und Käuferschlangen wie in den vergangenen Zeiten vor den Gruppenspielen um die Deutsche Meisterschaft oder vor den großen Privatspielen“. Das weite Rund des Volksparkstadions mit seinen damals mehr als 60.000 Plätzen hätte, so die Schätzungen angesichts der Nachfrage, mehr als dreimal gefüllt werden können. Erstaunlich zudem, was rund um das Seeler’sche Abschiedsspiel an Fan-Devotionalien und Erinnerungsstücken produziert wurde. Merchandising en masse, bevor es diesem Begriff im Vereinsvokabular überhaupt gab: Tonkrüge, Gläser, Flaggen und Wimpel mit dem Uwe-Konterfei. Als Sammlerstücke Schmuckkarten mit Sonderstempel der Bundespost für Briefmarkenfreunde, ein großformatiges Farbposter des gefeierten Kickers als Sonderbeilage der Sonnabend-Ausgabe des Abendblatts und das 50-seitige Programmheft mit Grußworten, Star-Porträts und einer Karriere-Chronik. Der Popsänger Les Humphries produzierte ein eigens komponiertes Abschiedslied, eingespielt und geträllert von den aktuellen HSV-Mannschaft mit Manni Kaltz, Rudi Kargus, Jürgen Kurbjuhn, Peter Nogly, Schorsch Volkert, Klaus Zaczyk & Co. und George Martin’s Marching Band. Textprobe: „Wir grüßen Uwe Seeler / den Dicken der uns fehlt / Wir bleiben stets am Ball / hier, heut und überall / das schulden wir Uwe Seeler / dem Dicken, unser’m Freund / For he’s a jolly good fellow / and so say all of us.“ – ein absoluter Hörgenuss!
Adieu, Farewell und Tschüss! Seeler-Sammlerstücke Sonderpostkarte, Single (mit Sänger Les Humphries) und Programmheft.
Erstklassige Fußballkunst, rauschende dritte Halbzeit
Zu den akustischen kamen die optischen Leckerbissen. Die lieferte das große Spiel den 62.000 Live-Zeugen vor Ort in Bahrenfeld und Millionen am heimischen Fernsehschirm gleich zu Hauf. Der Norddeutsche Rundfunk übertrug die Partie damals als Eurovisionssendung live und in voller Länge. Mitte April 2020, zu Beginn des ersten Corona-Lockdowns, wurde diese Sendung noch einmal aus dem Archiv hervorgeholt und als Re-live ausgestrahlt. Seither ist sie im Internet verfügbar. 116 Minuten Fußball-Historie zum Nachgucken. Eine Zeitreise. Doch auch wenn das, was man zu sehen bekommt, mit der heutigen Spielweise, vor allem in puncto Athletik nur noch wenig gemein hat, lassen sich die Schwärmereien des „kicker“ nachvollziehen. Neben dem typischen Auftritt der Hauptperson, der auch an seinem Ehrentag (sinnigerweise dem „Tag der Arbeit“) „der unermüdliche Rackerer“ blieb, zeigte sich das Fachmagazin vor allem von Beckenbauers „zentimetergenauen Pässen über 30, 40 Meter“ und dem „trickreichen“ und immer wieder sehenswert Haken schlagenden George Best schwer beeindruckt.
„Rudelbildung um Uwe“ beim Vor-, Zwischen- und Nachspiel: Seeler bei seiner Dankesrede vorm Anpfiff mit HSV-Präsident Dr. Horst Barrelet (2.v.r.) und Hamburgs Erstem Bürgermeister Hans Schulz (r.), Halbzeitmusik, Abgang auf den Schultern der Fans.
Spektakuläre Innovation: In der Halbzeit schaltete der NDR im Live-Interview direkt ins Allerheiligste, die HSV-Kabine, wo sich der sichtlich überraschte Däne Ole Bjørnmose kurz vorm Blankziehen gerade noch aus dem Schwenkbereich der Kamera entfernen konnte. Uwe Seeler fasste die erste Hälfe griffig zusammen und sprach ins Mikrofon von Reporter Peter Jensen: „Das Wetter ist gut. Das Spiel ist gut. Ich glaube (…) das ist nach dem Geschmack der Zuschauer. (…) Das Ergebnis spielt überhaupt keine Rolle. Ich bin der Meinung, wenn so erstklassige Fußballer da sind, sollten sie auch zeigen, wie man Tore schießt.“ Und das taten sie: Den sechs Treffern aus dem ersten Spielabschnitt ließen die Spieler in Hälfte zwei noch vier weitere folgen. Den letzten erzielte dabei – ganz standesgemäß – Uwe Seeler, in der 84. Minute nach einem Solo über den halben Platz, freundschaftlich eskortiert von Bobby Moore, Tommy Gemmell und Kalman Meszöly.
Auch Seelers zweiter, im Halbzeit-Interview geäußerter Wunsch ging in Erfüllung: „Heute Abend wollen wir noch ein bisschen lustig sein.“ Die dritte Halbzeit des Abschiedsspiels hatte es in sich. Nach dem Ball ließen die Fußballer und ihre Freunde, insgesamt 400 geladene Gäste, im Hotel Atlantic an der Alster tüchtig und bis in die Puppen die Puppen tanzen. Ein rauschendes Fest in dem Haus, in dem Seeler zwölf Jahre zuvor endgültig zur Vereins-Ikone und weit über den Fußball hinaus verehrten Person wurde, weil er das Millionen-Angebot von Inter Mailand ausschlug. Es wurde gut und reichlich gegessen und getrunken, gesungen, getanzt und gelacht. Die Studiker spielten auf, auch Les Humphries, Dunja Rajter und Roberto Blanco waren zu hören. Für den unvergesslichen Höhepunkt jedoch sorgte Udo Jürgens, als er nach Mitternacht in leichter Abwandlung eines seiner eingängigen Hits intonierte: „Vergiss den Uwe nicht!“ – Wie könnte man je, Udo?
After-Show-Höhepunkt nach Mitternacht: „Uns Uwe“ im Duett mit „Uns Udo“.
Dem feierlich Verabschiedeten gebührt damals wie heute das Schlusswort, zitiert aus dem Programmheft zu seinem Abschiedsspiel: „Tschüss Freunde, und Dankeschön! Es war eine lange und schöne Zeit, die viele von Euch mit mir und dem HSV verbracht haben. Besonderen Dank aber denen, die zu uns gehalten haben, auch wenn es mal nicht immer Siege zu feiern gab. Ich hoffe, Ihr haltet dem HSV auch weiter die Treue – so wie ich.“
Uwes Abschiedsspiel im Stenogramm
HSV – Internationale Auswahl 3:7 (2:4)
HSV: Arkoc (46. Kargus) – Sandmann (46. Memering), Hellfritz, W. Schulz, Ripp – Nogly, Hönig, Zaczyk (80. Dringelstein) – Bjørnmose (25. Winkler, 70. Lübeke), U. Seeler, Volkert (46. Dörfel); Trainer: Ochs
Internationale Auswahl: Banks [Stoke City] (46. Maier [FC Bayern München]) – Gemmell [Nottingham Forest], Schnellinger [AC Mailand] (46. Höttges [Werder Bremen], Beckenbauer [FC Bayern München] (46. Meszöly [Vasas Budapest]), Moore [West Ham United], Rivera [ AC Mailand], Bene [Ujpest Budapest], Charlton [Manchester United], Müller [FC Bayern München] (46. Dzajic [Roter Stern Belgrad]), Hurst [West Ham United] (46. Eusebio [Benfica Lissabon]), Best [Manchester United]; Betreuer: Schön
Schiedsrichter: Herden, Linienrichter: Ohmsen, Schulenburg (alle Hamburg)
Tore: 0:1 Hurst (15.), 0:2 Bene (37.), 0:3 Beckenbauer (40.), 1:3 Seeler (42., FE), 1.4 Müller (43.), 2:4 Zaczyk (44.), 2:5 Meszöly (56.), 2:6 Best (61.), 2:7 Eusebio (80.), 3:7 Seeler (84.)
Zuschauer: 62.000 (ausverkauft)