Wieder der EINE sein

SVEN ULREICH hat beim FC Bayern München fünf Jahre als zuverlässiger Stellvertreter von Manuel Neuer fungiert. Zuvor war der Baden-Württemberger Stammkeeper in Stuttgart. Diese Rolle will er jetzt beim HSV wieder ausfüllen.

Es kann immer nur einer spielen. Das war, ist und wird in Bezug auf die Torwart-Position immer die Krux sein. Sven Ulreich weiß dies genau, schließlich hatte der 32-Jährige im Laufe seiner Karriere sowohl den klaren Nummer-1-Status als auch die Rolle des Back-ups hinter einem gesetzten Stammkeeper inne – und in beiden Konstellationen hat er sein sportliches Glück gefunden.

Bevor seine persönliche Achterbahnfahrt durch das Torwart-Karussell in der Bundesliga begann, ist Sven Ulreich allerdings eher behütet aufgewachsen. Am 3. August 1988 wird er in Schorndorf bei Stuttgart geboren und macht beim TSV Lichtenwald seine ersten fußballerischen Schritte. Jedoch nicht im Tor, denn dort stand der Sohn des Trainers. Um sich den Traum vom Platz zwischen den Pfosten zu erfüllen, erfolgte nach nur einem Jahr in Lichtenwald der Wechsel zum TSV Schornbach, wo wiederum sein eigener Vater den Filius als Trainer unter die Fittiche nahm. Der kleine Sven, der schon in der Jugend zu den größeren Kindern zählt, macht schnell Fortschritte – und trifft im Jahr 1997 eine wegweisende Entscheidung. Gemeinsam mit seinem Vater, der gleichzeitig auch sein größter Fan und Förderer ist, fährt Ulreich zu den Jugendtagen des VfB Stuttgart nach Bad Canstatt. Die anwesenden Scouts der Schwaben sind begeistert vom Talent des damals Neunjährigen und fädeln die sofortige Verpflichtung ein. Für den jungen Sven geht ein Traum in Erfüllung, schließlich ist der VfB seit Kindestagen sein ausgemachter Lieblingsverein. Im Sommer 2000, der aufstrebende Keeper ist gerade zwölf Jahre alt, folgt dann der erste schwere Tiefschlag – aber nicht auf der sportlicher Ebene. Ulreichs Vater verliert den Kampf gegen den Krebs, hinterlässt eine große, wenn nicht gar die denkbar größte Lücke im Leben seines Sohnemannes. „Es ist sehr schade, dass er nicht mehr miterleben kann, was ich seither alles erreicht habe“, wird der selbsternannte Familienmensch Jahre später einmal über diese Tragödie sagen.

Schwerer Schicksalsschlag und mutige Entscheidungen
Fortan muss der Schüler den weiteren Weg ohne seinen treuen Weggefährten beschreiten. Aufhalten lässt sich der Rechtsfuß davon aber nicht. Er durchläuft alle Jugend-Mannschaften des renommierten Nachwuchsleistungszentrums in Stuttgart, wird U-Nationalspieler beim DFB und gewinnt mit der U19 im Sommer 2005 die deutsche Meisterschaft. Es folgt die Beförderung in die zweite Mannschaft, das erste Spiel im Herrenbereich und das Bundesliga-Debüt im Februar 2008. Der steile Aufstieg wird jäh unterbrochen, als Armin Veh den Keeper nach einem 0:3 in Leverkusen wieder aus dem Tor nimmt. Nach der Ausbootung kehrt Ulreich zu den Amateuren zurück und schließt eine Ausbildung zum Sport- und Fitnesskaufmann ab. Das zweite Standbein wird allerdings kurz darauf nicht mehr benötigt, denn im Sommer 2009 kehrt „Ulle“, wie ihn seine Teamkollegen nennen, in den Profikader zurück und etabliert sich nach einem Lehrjahr hinter Stammkeeper Jens Lehmann als Nummer 1 der Schwaben. Diesen Status gibt er fortan nicht mehr ab und bestreitet mehr als 200 Pflichtspiele für den VfB, ehe er im Sommer 2015 einen weiteren richtungweisenden Entschluss trifft. Sein Wechsel zum FC Bayern München, der mit dem Verlust des Nummer-1-Status verbunden ist, wird in den Medien und der Fußballszene über Wochen und Monate angeregt diskutiert. Auch Andreas Menger ist damals betroffen, schließlich war der jetzige Torwart-Trainer des 1. FC Köln von 2011 bis 2015 für Sven Ulreich und seine Konkurrenten beim VfB verantwortlich. Der gebürtige Berliner spricht von einem „Auf und Ab“, wenn er sich an die gemeinsame Zeit mit seinem ehemaligen Schützling zurückerinnert.
   

Erfolgshungrig: Unter der Leitung von Torwarttrainer Toni Tapalovic (2.v.l.) und an der Seite von Welttorhüter Manuel Neuer und Ron Thorben Hoffmann (v.l.) gewann Sven Ulreich in der vergangenen Saison das Triple aus Champions League, Meisterschaft und Pokal. Insgesamt holte er in fünf Jahren 14 Titel mit den Bayern.      

„Sven ist ein sehr ausgeglichener und fokussierter Mensch, der im Training und im Wettkampf seine Leistung abliefert“, fügt Menger an und beschreibt damit genau das, was Ulreich – aller kritischen Töne zum Trotz – in den vergangenen fünf Jahren in München geschafft hat: Da zu sein, wenn es drauf ankommt. Vor allem in der Saison 2017/18, als Welttorhüter Neuer aufgrund eines Mittelfußbruchs monatelang ausfällt. Stellvertreter Ulreich bestreitet in dieser Spielzeit insgesamt 47 Pflichtspiele für den FCB und erweist sich mit teils überragenden Leistungen als hervorragender Ersatz, der eigentlich viel mehr ist als das. Neben den sportlichen Meriten, die er sich in dieser Zeit verdient, arbeitet er parallel auch wieder an seinem zweiten Standbein und schließt fast ein Jahrzehnt nach seiner Ausbildung ein Sportmanagement-Studium mit der Note 1,7 ab. Es ist die Phase, in der dem Keeper fast alles gelingt. Da auch zum Ende der folgenden Serie noch einige Einsätze hinzukommen, entscheidet sich Bundestrainer Joachim Löw im Sommer 2019 für eine Nominierung des verlässlichen Rückhalts. Und auch wenn der damals 30-Jährige die beiden Länderspiele gegen Weißrussland und Estland jeweils 90 Minuten von der Bank aus verfolgt, kann ihm die Momente mit dem Adler auf der Brust keiner mehr nehmen.

Gereift, gewachsen, gefestigt

Bis zum Sommer 2020 läuft der im Stahlbad Stuttgart gereifte Keeper in insgesamt 70 Pflichtspielen für den Branchen-Primus auf und gewinnt 14 Titel. Die Krönung ist der Gewinn der UEFA Champions League im August 2020. „Der Wechsel war damals für viele überraschend. Ich hatte aber einen Plan, wollte etwas für mein Leben mitnehmen und mit Manuel Neuer von einem der weltbesten Torhüter lernen“, sagt Ulreich rund fünf Wochen nach dem Triumph in Lissabon, als er im Hamburger Volkspark steht und seine Zeit bei der derzeit besten Mannschaft der Welt Revue passieren lässt. „Ich hatte fünf tolle Jahre in München, habe viele Spiele bestritten und die Zeit sehr genossen. In den letzten Monaten ist in mir aber der Gedanke gereift, dass ich wieder für einen Club spielen möchte, bei dem ich als Nummer eins im Tor stehen kann.“ Diese Möglichkeit hat sich kurz vor Ende der Sommer-Transferperiode beim HSV ergeben. Die Verpflichtung des inzwischen 32-Jährigen, der einen Dreijahresvertrag bis 2023 erhielt, hat auch bei Andreas Menger einen bleibenden Eindruck hinterlassen: „Der HSV bekommt einen nahezu kompletten Torwart.
Er verteidigt das Tor, ist stark im Eins-gegen-eins und hat viele fußballerische Lösungen parat.“

Darüber hinaus sieht der langjährige Lehrmeister vor allem die „wertvollen Erfahrungen“ als Faustpfand. „Sven kann dem Spiel des HSV eine gewisse Ruhe geben. Er wird keine großen Sprüche klopfen, dafür aber sehr sachlich an die Aufgaben herangehen.“ Der Gelobte schlug in seiner ersten Medienrunde vor den Toren des Volksparkstadions in die gleiche Kerbe, als er davon sprach, dass er die gesammelten Erkenntnisse aus seiner Zeit beim FC Bayern nun in Hamburg einbringen möchte: „Bei den Bayern herrscht selbst im Training ein enorm hohes Wettkampfniveau. Das will ich auch hier vorleben, damit wir unsere Ziele erreichen.“ Um seine bestmögliche Performance abrufen zu können, wird Ulreich sich sein gewohntes Umfeld in der Hansestadt aufbauen. „Ich brauche meine Frau und meine Kinder, um mich wohlzufühlen. Daher will ich sie auch nach Hamburg holen“, erklärt der 1,92 Meter große Schlussmann und meint damit Ehefrau Lisa, den fast fünfjährigen Sohnemann und die vor rund zwei Jahren geborene Tochter. Auch über die familiäre Verbindung hinaus haben die wichtigen Bezugspersonen eine enorm große Bedeutung für den eher introvertierten Baden-Württemberger. Angesprochen auf seinen langjährigen Berater Jürgen Schwab spricht der Keeper von einem „Freund“, der mehr ist als nur ein Karrierebegleiter. „Er kennt mich, weiß wie ich ticke und ist daher eine sehr wichtige Person in meinem Leben.“

Mit Blick auf das gefestigte Umfeld sowie den gesammelten Erfahrungsschatz beim VfB Stuttgart und dem FC Bayern München wird klar, dass der HSV in Sven Ulreich nicht nur einen national und international anerkannten Torwart, sondern auch einen gereiften Menschen verpflichtet hat, der seine neue Herausforderung trotz aller Erfolge extrem ambitioniert angeht: „Ich will meinen Beitrag dazu leisten, dass wir gemeinsam den maximalen Erfolg einfahren.“ In Bezug auf seine Rolle bedeutet dies: Ulreich will spielen. Der Keeper möchte – analog zu seiner Zeit beim VfB Stuttgart – den Status als Nummer 1 erobern und das Abschneiden der Rothosen in den kommenden Monaten und Jahren aktiv mitgestalten. „Er will jetzt wieder der Eine sein“, vermutet Andreas Menger – und liegt damit wohl goldrichtig. Denn im Tor kann eben nur einer spielen. Das weiß gerade Sven Ulreich nur zu genau.